050 - Monsterburg Höllenstein
habe keine
reichen Verwandten. Ich kann mir überhaupt nicht denken, wer mir etwas
hinterlassen könnte.« Jessica Paine hatte weder Eltern noch Geschwister. Ihre
Eltern waren durch einen Autounfall ums Leben gekommen, als sie gerade
volljährig war. Sie schloß ihre Lehre ab und arbeitete seitdem in der Kanzlei.
Tobb versprach, alles zu
erledigen. Jessica rechnete fest damit, mit zwei bis dreistündiger Verspätung
anzufangen. »Ich werde auf alle Fälle nochmal anrufen…«
Fünf Minuten später
rollte ihr orangefarbener VW aus der Tiefgarage. Jessica Paine fädelte sich in
den starken Morgenverkehr ein, der durch die Adams Street rollte. Sie hätte es
einfacher haben können, wenn sie ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt hätte.
Aber die Freude am eigenen Auto empfand sie selbst bei ungünstigen Bedingungen
noch so intensiv, daß sie nicht darauf verzichten wollte.
Sie brauchte über eine
halbe Stunde, um das alte rote Backsteinhaus zu erreichen. Ein mattes
Messingschuld trug den Namen Anthony Harpers und die Sprechzeiten, zu denen er
in seinem Office anzutreffen war. Das Haus war alt, das Messingschild war es,
und Harper selbst war es auch. In Kreisen seiner Kollegen wurde er nicht mehr
ganz ernst genommen, und es war allgemein bekannt, daß seine Praxis nicht gut
ging und er sich mehr schlecht als recht über Wasser hielt.
Als Jessica Paine den
Hausflur betrat, schlug ihr muffiger Geruch entgegen. Die Wand hätte gut einen
neuen Anstrich gebrauchen können, ebenso das Treppengeländer. Harpers
Praxisräume lagen in der zweiten Etage. Auf dem Weg nach oben kamen Jessica
zwei sommersprossige Kinder entgegen, die zur Schule gingen. Die beiden grüßten
lautstark und rannten nach unten weiter. Dann stand Jessica vor der Tür und
betätigte die Klingel. Gleich darauf waren Schritte zu hören. Eine ältliche
Angestellte öffnete. Die Frau war klein, grauhaarig und ging leicht gebückt.
Jessica nannte ihren Namen und den Grund, weshalb sie gekommen war.
»Ich hoffe, ich bin
nicht zu früh dran«, schloß sie. Die Frau winkte ab. »Sie hätten schon um sechs
kommen können. Seit diesem Zeitpunkt hält Mister Harper sich in seinem Büro
auf. Jeder soll schließlich die gleiche Chance haben, verstehen Sie?« Nein, das
verstand sie nicht… Aber schon zwei Minuten später sah das anders aus. Harper
ließ sie umgehend hereinbitten. Er saß hinter einem riesigen Schreibtisch, auf
dem sich verstaubte Akten stapelten. Wahrscheinlich waren darin längst
abgeschlossene Fälle verwahrt. Harper umgab sich mit seinen Erfolgen aus
der Vergangenheit. Der Anwalt war Anfang Sechzig, wirkte aber älter. Dieser
Eindruck wurde verstärkt durch das schüttere Haar und das graue, aufgequollene
Gesicht. Harper trank viel. Das war bekannt. Und er fing schon frühmorgens
damit an…
Auf dem Schreibtisch vor
ihm stand allerdings eine Kaffeetasse, sie war noch halbvoll. Eine braune
Brühe, sah aus wie Kaffee, war aber eiskalt und war auch kein Kaffee.
Bourbon-Whisky… Harper brauchte einen starken Muntermacher. »Sie sind also die
erste«, sagte der Anwalt und blickte Jessica über den Rand seiner altmodischen
Brille aus glasigen Augen an. Man merkte ihm nicht an, daß er bereits begonnen
hatte zu tanken. Er warf einen Blick auf die große runde Uhr, die über dem
Eingang zu seinem Büro prangte. »Ich wußte, daß nur Sie es sein konnten, die
als erste hier auftauchen würde. Vorausgesetzt natürlich, Sie würden überhaupt
auf mein Anschreiben reagieren.«
»Ich war nahe daran, es
nicht zu tun«, gestand Jessica. »Und jetzt, Mister Harper, wäre ich ganz froh,
wenn Sie die Katze aus dem Sack ließen. Was bedeutet es, daß ich die erste bin
oder nicht, was hat das mit der Erbschaftsangelegenheit zu tun, wegen der Sie
mich herbestellt haben? Ich bin nahe daran zu glauben, an einem Rennen
teilzunehmen.« Harper lachte leise. »Da, Miß Jessica, haben Sie gar nicht so
unrecht. In gewissem Sinn ist es ein Rennen, aber das habe nicht ich mir
ausgedacht, sondern der Erblasser. Sie haben geerbt! Ein großes Anwesen, das
sehr viel wert ist, eine alte Burg, die als Hotel und Restaurant benutzt wird…«
●
Jessica Paine bat ihn
darum, es ein zweites Mal zu sagen, weil sie es nicht fassen konnte. Der Anwalt
tat es und schlug eine Akte auf. Sie lag oben auf dem Stapel und enthielt einige
abgestempelte Schriftstücke, Lagepläne und Fotos. Harper schob Jessica Paine
die Bilder über den Tisch. Die junge Frau sah die Burg zum
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