0501 - Die Mord-Clique
sich Richberger um. Sogar ziemlich schnell für einen Blinden. Sein Mantel war nicht zugeknöpft. Er klappte ihn mit der freien Hand an einer Seite auf.
Alicia konnte erkennen, was er darunter verborgen hatte.
Es war ein kleiner Mensch, ein Liliputaner, und der war tot. Das Blut sickerte aus seiner Brustwunde…
***
Alicia wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie stand da, hatte die Augen weit aufgerissen, spürte die Kälte von den Zehenspitzen bis in den Kopf hochschießen und merkte, daß sie von einer Hitzewelle abgelöst wurde, die genau umgekehrt lief.
»Blute ich?« vernahm sie die Stimme des Blinden.
Sie sagte nichts. Kalkweiß war Alicia geworden. Sie schwankte, drückte sich zur Seite und bekam den Handlauf des Geländers zu fassen, so daß sie sich an ihm abstützen konnte. Gleichzeitig erfaßte sie der große Schwindel. Die Treppe, der Blinde, auch der Tote, das alles drehte sich vor ihren Augen, wobei ihr zusätzlich noch übel wurde und sie die Übelkeit durch tiefes Einatmen kaum unterdrücken konnte.
Erst als der Blinde sie zum zweitenmal angesprochen hatte, wurde ihr bewußt, daß sie gemeint war. »Also, Alicia, Sie machen sich unnötige Sorgen. Ich blute wirklich nicht.«
»Ja, das habe ich… das habe ich jetzt gesehen.«
»Wie schön.«
»Aber…«
»Was ist denn mit aber?«
»Der Tote, den Sie halten.« Ihr Arm schwenkte hoch. Den Zeigefinger hatte sie ausgestreckt, um auf die Leiche zu deuten. »Er ist doch tot – oder nicht?«
»Natürlich ist er tot.«
»Und Sie haben ihn…?«
Caspar Richberger lachte. »Ja, ich habe ihn, wenn du das meinst. Aber ich habe ihn nicht allein, verstehst du?«
»Das hat er wirklich nicht!«
Alicia schrak zusammen, als sie hinter sich die Frauenstimme vernahm. Auch ohne sich umzudrehen, wußte sie sofort, wer sich in ihrem Rücken angeschlichen hatte.
Diana Richberger, die Frau des Blinden. Woher sie gekommen war, hatte Alicia nicht sehen können, jedenfalls stand sie hinter ihr, und das Mädchen roch sie. Die Kleidung der Frau stank immer nach Mottenpulver. Dieser Geruch wollte einfach nicht weichen.
Alicia war hin- und hergerissen. Sie wußte nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollte. Umdrehen und Alicia anstarren oder sie einfach ignorieren?
Hier war etwas Schreckliches in Szene gesetzt worden. Es hatte einen Mord gegeben, die Polizei mußte alarmiert werden und den Fall aufklären, aber das ging wohl so rasch nicht.
Die Gedanken schlugen in ihrem Kopf Purzelbäume. Alicia war überfordert. Flüsternd wurde sie von Diana Richberger angesprochen.
»Möchtest du dich nicht umdrehen, mein Kind?«
»Wieso – ich werde jetzt telefonieren und…«
»Tatsächlich?«
Allein der Klang dieser Stimme peitschte ein Furchtgefühl in Alicia hoch. Diana Richberger wußte genau, was sie da sagte, und das Mädchen konnte einfach nicht anders, als den Befehl der alten Frau zu befolgen.
Auch Diana sah aus wie immer. Sie trug ein violettes Kleid mit einem breiten, schärpenartigen Kragen. Die Frisur saß perfekt. Der Friseur hatte die grauen Haare etwas heller gefärbt und sie gelockt.
Grau wie das Haar waren auch die Augen in dem etwas hageren Gesicht mit den beiden Nasenfalten, die bis zum Kinn reichten und den schmalen Mund wie zwei Striche einrahmten.
Ja, sie sah aus wie immer.
Nur etwas störte.
In der rechten Hand hielt Diana Richberger ein machetenartiges und schon waffenscheinpflichtiges Messer. Sie bewegte die Klinge leicht hin und her, so daß sie vom Licht gestreift wurde und sonderbare Reflexe warf.
Alicia sah nur die Klinge. Gleichzeitig spürte sie die Kälte auf ihrem Rücken. Sie kam sich vor wie ein Eisblock. In ihren Adern schien kein Blut mehr zu fließen, sondern kaltes Wasser.
Plötzlich störte sie auch die Stille. Nein, das war mehr als ein Stören. Diese fast absolute Stille flößte ihr Angst ein. Selbst das Atmen des Blinden hörte sie nicht mehr.
»So ist das also, Mädchen«, sagte Diana.
»Was ist so?«
Die Frau lächelte hämisch. »Du hättest nicht so neugierig sein sollen, jetzt bist du eine Zeugin.«
Alicias dunkle Augen nahmen an Größe zu. »Ich… ich verstehe nicht«, sagte sie leise.
»Es tut mir ja leid für dich«, erklärte Diana Richberger, ohne jedoch Mitleid in ihrer Stimme erkennen zu lassen. »Es tut mir wirklich leid, aber es gibt keine andere Möglichkeit für uns. Begreifst du das? Wir können einfach keine Zeugen gebrauchen. Was hier geschehen ist und noch geschehen wird, darf nicht an die
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