0504 - Lorna, die Löwenfrau
Fenster geschlossen hatte. Dahinter sah er noch Lorna Delaney, die Löwin.
Monster oder Mensch? Das war bei ihr die Frage.
Lorna trat zurück in die Mitte des Zimmers. Dabei zerfloß sie immer mehr. Sie schien in das Licht eintauchen zu wollen, um von ihm verschluckt zu werden. Dann hatte sie einen toten Winkel erreicht und war nicht mehr zu sehen.
Nur allmählich gelang es Duncan, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Lorna hatte ihm die Chance gegeben. Er sollte auf dem Sims bleiben und das Penthouse umrunden.
Das war zu schaffen, doch nur für einen austrainierten Menschen, der sich nichts draus machte, auch mal über ein Hochseil zu gehen.
Wenn Duncan allein an die Tiefe dachte, verstärkte sich das Gummigefühl in seinen Knien noch mehr. Da überkam ihn das große Zittern, das nicht einmal aufhörte, als es die Knochen erreicht hatte.
Es war wie Schüttelfrost. Er konnte nichts dagegen unternehmen.
Die Zähne klapperten aufeinander, er biß sich auf die Zunge und schmeckte das süßliche Blut.
So etwas wie Lebenswille kroch in ihm hoch. Durchhalten! sagte er sich. Du mußt einfach durchhalten. Du kannst es dir nicht leisten, in die Tiefe zu stürzen.
Es gab keine Kante, um die er seine Hände hätte legen können. So stützte er sich mit den Flächen an der Wand ab und redete sich selbst ein, daß sie ihm Halt gab.
Den Kopf zu drehen und in die Tiefe zu schauen, das wagte er nicht. Dann wäre es möglicherweise über ihn gekommen, und er wäre kopfüber die sechs Stockwerke nach unten gefallen.
Ein Körper, der an der Wand entlangraste, bevor das endgültige Aus kam. Ein entsetzlicher Gedanke. Duncan wußte auch nicht, wie lange er auf dem Sims gestanden hatte, die Zeit gab es nicht mehr.
Sie war von der Todesangst verdrängt worden.
Der Mensch gewöhnt sich an alles, sagt man. So ähnlich erging es auch Ab Duncan. Das Gefühl der Todesangst entschwand. Nach einer Weile stellte er fest, daß der Schweiß und die Angst nachließen. Auch das Zittern war nicht mehr so stark.
Ab Duncan erinnerte sich wieder an seine eigentliche Aufgabe. Er mußte sein Penthouse umrunden.
Eine perverse Strafe in seinem Zustand. Eine Chance wie die eines Schneeballs in der Hölle.
Unter ihm war es nicht sehr laut. Jenseits des kleinen Parks vernahm er die Geräusche der Straße. Die Wagen fuhren nicht so dicht wie tagsüber, es war mehr ein intervallartiges Brausen, das seine Ohren erreichte.
Noch stand er dicht vor der Wand. Seine starre Haltung rächte sich nun. Er bekam einen Krampf im rechten Bein und konnte nichts dagegen machen. Weil er zum nächsten Fenster wollte, mußte er um eine Mauerecke herumgehen. Ein schwieriges Unternehmen. Er hatte das Gefühl, in die Finsternis hineinzusteigen.
Duncans Mund stand offen. Trotz der Kühle lag Schweiß auf seinem Gesicht. Duncan wußte, daß es in dieser Höhe immer etwas windig war. Zumeist an den Hausecken fing sich der Wind. Auf eine der Ecken ging er zu. Wenn er sie umrundet hatte, würde er das nächste Fenster sehen können.
Vielleicht lauerte sie dort schon, um ihn zu beobachten. Es würde Lorna sicherlich Spaß machen, seinen Weg über den Sims zu verfolgen und sich an seiner Angst zu weiden.
Der rasende Herzschlag hatte sich etwas beruhigt. Von Normalität war nicht zu sprechen, aber zumindest das hektische Trommeln hatte nachgelassen.
Noch immer stand er mit dem Gesicht zur Wand, dabei versuchte er, um die Mauerecke zu peilen.
Es waren nur wenige Schritte, aber in seinem Zustand kamen sie ihm meilenweit vor.
Seine Augen suchten die Umgebung ab. Manchmal verschwamm sie auch, weil der Druck immer unerträglicher wurde. Dann hatte Duncan den Eindruck, bei jedem Schritt in Watte zu gehen und keinen Boden mehr unter den Füßen zu finden.
Die Hälfte der Distanz hatte er mittlerweile überwunden. Euphorie kam nicht auf, nur ein Gefühl der Zufriedenheit. Wenn er den Rest auch noch überstand, erhöhte sich die Chance.
Die dunklen Schatten der Nacht hüllten ihn ein wie einen dichten Mantel. Wenn er nach rechts schielte und sein Blick ein Stück an der Hauswand entlang in die Tiefe fiel, sah er hin und wieder die dünnen Inseln des Lichts, die aus den Fenstern fielen und sich wie Schleier in der Finsternis verteilten.
Seine Kehle war längst trocken geworden. Der Druck in Kehle und Magen war kaum schwächer geworden.
Dann waren die Schatten da.
Von einem Augenblick zum anderen tobten sie um Ab Duncan herum. Er hörte sie, das Flattern, als sie ihren
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