0504 - Lorna, die Löwenfrau
Scheibe nach innen zog. Für einen Moment blieb sie in dem Ausschnitt stehen, sichtbar für Duncan, dann beugte sie sich vor.
»Hallo Ab, du bist noch nicht weit gekommen!«
»Mir ist es weit genug!« keuchte er.
Sie lachte. »Es ist nicht einmal die Hälfte. Wer weiß, was auf dem Rest der Strecke noch alles passieren kann. Vielleicht rutschst du noch aus, fällst in die Tiefe, wirst zerschmettert. Ich jedenfalls würde dir keine Träne nachweinen.«
»Hör auf, ich…«
»Immer noch die Hosen voll, Versager? Du solltest doch inzwischen gelernt haben, daß so etwas nicht gut ist. Zittere ruhig weiter. Ich werde dich beobachten.«
»Und wenn ich es doch schaffe? Was ist dann?«
Lorna war schon dabei, das Fenster zu schließen. Sie sah wieder aus wie eine normale Frau. »Von schaffen kann hier noch keine Rede sein«, erklärte sie.
Dann knallte sie das Fenster zu, und Ab Duncan zuckte bei diesem Geräusch zusammen.
Obwohl das Gespräch kein Resultat ergeben hatte, stand für den Anwalt fest, daß er noch immer sehr weit von seinem eigentlichen Ziel entfernt war.
So wie er die Frau einschätzte, dachte sie nicht im Traum daran, ihn so ohne weiteres entwischen zu lassen. Sie mochte keine Zeugen, die nicht auf ihrer Seite standen.
Wenn er es trotz allem schaffte, sein ursprüngliches Ziel zu erreichen, konnte dort durchaus der Tod in Form von Lorna Delaney lauern.
Hatte es da überhaupt noch Sinn, den Weg fortzusetzen? Die Worte der Frau hatten ihn hart getroffen. Er verglich sie mit seelischen Peitschenschlägen, die ihn in regelrechte Depressionen hineintrieben.
Von dieser Stelle aus sah er auch das zweite Fenster. Auch ein Schimmer der Hoffnung. Zwischen den beiden Lücken im Mauerwerk lagen ungefähr drei Yards.
Eine lächerliche Entfernung, die er überbrücken mußte. Er würde es auch schaffen, wenn nicht wieder die Gedanken der Furcht in ihm aufgepeitscht wären.
Was würde geschehen, wenn der Sims baufällig war? Bisher hatte er ihn noch getragen, das aber mußte nicht immer so weitergehen.
Er bekam wieder das Ziehen im Magen. Die Furcht drückte von allen Seiten. Möglicherweise wußte Lorna auch Bescheid. Nicht umsonst hatte sie ihn so hart angesprochen und von einer minimalen Chance geredet.
Er schaute noch einmal auf das Fenster.
Lorna Delaney hatte sich zurückgezogen. Sicherlich würde sie ihn am nächsten Fenster erwarten. Er rechnete auch mit einer bösen Überraschung ihrerseits. Sie war genau der Typ, der einen Menschen noch in seiner Not quälte.
Dennoch ging er weiter.
Der Wind hatte nachgelassen. Er fing sich eben nur an der Mauerkante. Außerdem besaß Ab Duncan inzwischen so etwas wie Routine, was das Laufen auf diesem schmalen Sims anging.
Er kam sogar gut voran, besser als zu Beginn!
Auf halber Strecke zwischen den beiden Fenstern hörte er das Geräusch.
Es war ein Zischen, dann ein leiser Ruf, der den Gang des Anwalts sofort stoppte.
Wie angeklebt blieb er stehen. Leicht geduckt. Die Gänsehaut floß über seinen Nacken. Ab lauschte der Stimme, und kam zu dem Ergebnis, daß nicht Lorna ihn angesprochen hatte.
»Mister…«
Ab gab keine Antwort. Es kostete ihn jedoch Kraft und Überwindung, den Kopf zu heben und in die Höhe zu schauen, von wo die Stimme aufgeklungen war.
Jemand hockte auf dem Dach!
Wer es war, konnte Duncan nicht erkennen, aber er identifizierte ihn als einen Mann.
Der Unbekannte hatte sich so weit vorgebeugt, daß er über den Dachrand hinwegschauen konnte. Er sah so aus, als würde er vom Wind jeden Moment weggeweht werden.
Dann aber bewegte er sich. »Aufpassen!«
Etwas rutschte nach unten. Es glitt wie ein gestreckter Schlangenkörper an der Hauswand entlang nach unten und landete dicht vor seinen Füßen auf dem Sims.
Es war ein Seil!
Ab Duncan konnte es kaum glauben. Er schielte nach unten, dachte an einen Trick und hörte wieder die Stimme des ihm fremden Mannes. »Nehmen Sie es, Ab!«
Ja, er durfte keine Zeit verlieren. Wenn es eine reelle Chance für ihn gab, dann jetzt.
Vorsichtig bückte er sich, streckte den Arm aus, hob das Seil an und führte es unter seine Achselhöhlen, bevor er einen dicken Dreifachknoten schnürte.
Zudem streckte er die Arme aus und hielt es mit beiden Händen noch über seinem Kopf fest. Sein Leben hing nun von der Kraft des Mannes über ihm ab.
Kaum hatte Ab den Kontakt mit der Wand verloren, überkam ihn ein Schwindelgefühl.
Er kippte nach hinten und wäre gefallen. Wenn ihn das Seil nicht gehalten
Weitere Kostenlose Bücher