0504 - Lorna, die Löwenfrau
Flügel heftig bewegten, sogar ein Krächzen entstand, böse Laute, die ihn umwehten, und Duncan kam sich vor wie eine Statue.
Ihn beherrschte nur ein Gedanke. Stehenbleiben, nicht rühren.
Jede falsche Bewegung, jeder unüberlegte Schritt konnte für ihn das endgültige Aus bedeuten.
Die Vögel umflatterten ihn. Sie waren wütend. Man hatte sie aus ihrer Ruhe und dem Schlaf gerissen. Sie wollten dem Übeltäter nichts Böses, aber sie blieben noch in seiner Nähe.
Wieder überkam Ab das Zittern. Diesmal sackte er regelrecht in den Knien ein, sie wollten nachgeben, er ging auch in die Hocke und preßte beide Handflächen gegen die Mauer.
Aus seinem offenen Mund drangen leise Laute, jammernde Rufe des Wehklagens. Seine Wangenmuskeln zuckten, bildeten Kerben, in die Schweißperlen rannen.
Die Vögel stiegen wieder in die dunkle Höhe des Himmels. Er saugte sie auf, und Ab Duncan merkte erst viel später, daß dieser Kelch an ihm vorübergegangen war.
Plötzlich begann er zu schluchzen. Er hatte es geschafft. Er stand noch immer auf dem Vorsprung. Hinter ihm die grauenhafte Tiefe, um ihn die Dunkelheit.
Zentimeter für Zentimeter kam er weiter. Zitternd, angstvoll. Die Mauerkante rückte näher. Er streckte den rechten Arm aus. Mit ihm und der Handfläche schabte er am Gestein entlang. Seine Augen waren weit geöffnet. Der Blick erinnerte an starres Eis, die Pupillen wirkten wie gefrorene Kugeln.
Dann hatte er es geschafft!
Seine Finger umkrallten die Ecke. Endlich etwas Halt, eine gewisse Sicherheit.
Er zog sich weiter vor.
Noch immer schabte er über die Wand. Das linke Bein zuckte, Ab gab nicht auf – und erreichte sein erstes Ziel, wo ihn gleichzeitig der Wind erfaßte.
Duncan wußte, daß es an dieser Stelle windig war. Wie mit gierigen Händen fuhr er kalt gegen sein Hemd und fand auch den Weg darunter, so daß er über die nackte Haut streichen konnte und den Schweiß dabei trocknete.
Ab wollte sich ducken, er traute sich nicht. Keine überflüssige Bewegung, die er nicht kontrollieren konnte. Statt dessen hob er den Kopf und blickte nach vorn, wo sich ein schwacher Lichtschein abzeichnete, der aus einem anderen Wohnungsfenster drang.
Es lag auf gleicher Höhe wie das Panoramafenster, also über ihm.
Das Rollo hing nicht davor, er konnte auch noch keinen menschlichen Umriß hinter dem Glas erkennen, der Blickwinkel war einfach zu schlecht.
Das Fenster war sein nächstes Ziel.
Noch immer stand er auf der Ecke und krallte sich fest. Der Wind fuhr böig heran. Er packte ihn, schüttelte ihn durch, aber er riß ihn nicht in die Tiefe.
Auf Ab’s Gesicht war der Schweiß mittlerweile getrocknet, seine Haare wurden in die Höhe geschaufelt. Er hatte den Eindruck, als würden sie wegfliegen.
Die innere Stimme »meldete« sich.
Weiter, du mußt weiter! Du kannst nicht für alle Ewigkeiten auf der Kante stehenbleiben. Nicht einmal bis zum Morgengrauen. Irgendwann würde er fallen, wenn er das versuchte, das befürchtete er nicht zu Unrecht.
Er gab sich den Ruck, ohne dabei allerdings den nächsten Schritt zu wagen. Damit ließ er sich noch etwas Zeit, und den setzte er sehr, sehr vorsichtig.
Der Sims nahm zwar nicht an Breite zu, er wurde aber auch nicht schmaler. Dies war sein Vorteil, und so bewegte sich Ab Duncan auf das zweite Fenster zu.
Vor jedem Schritt hob er den Fuß an, bevor er das Bein streckte und seine Sohle auf den Sims drückte. Wieder schleifte sein Gesicht fast über das rauhe Gestein. Die Wand bestand aus großen Klötzen.
Sie lagen dicht nebeneinander und waren nur durch schmale Rillen getrennt. In diese Ritzen fuhr der Wind ebenfalls hinein und wirbelte aus, manchen von ihnen Staub hoch, der dem Anwalt ins Gesicht wehte.
Nur nicht niesen! Auf keinen Fall eine unkontrollierte Reaktion.
Das konnte sonst schiefgehen.
Es ging nicht schief. Ab Duncan erreichte unangefochten das zweite Fenster. Er lag, wie auch die große Panoramascheibe, hoch über ihm, und er legte den Kopf in den Nacken, um hinaufzuschauen.
Das Fenster war schmaler. Es gehörte noch zu den alten und ließ sich nur per Hand öffnen.
Ab wollte schon weitergehen, als er hinter der erleuchteten Scheibe den Schatten sah.
Lorna erschien!
Sie ließ das Fenster noch geschlossen, stand nur da und schaute hinaus.
Sah sie ihn?
Ab Duncan nahm die Bewegung wahr, als Lorna den linken Arm hob und mit der Hand den Fenstergriff umklammerte. Sie drehte ihn. Duncan glaubte sogar, das Knarren zu hören, als Lorna schon die
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