0509 - Ein Gehängter kehrt zurück
zögerte mit dem Weitersprechen. »Nein!« hauchte sie dann. »Bei einem Menschen wie dir kann man sich einfach nicht sicher sein. Das ist … das ist …«
»Ich kann ihn dir zeigen!«
Wieder schrak Chrissy zusammen. Sie hatte in den vergangenen Minuten nur übertrieben reagiert, aber es war nicht anders möglich gewesen, bei diesen schockartigen Antworten, die sie bekommen hatte. »Wohin müssen wir, wenn…«
»Wir können im Haus bleiben.«
»In dem Keller?«
»Nein.« Eliza deutete auf die Treppe. »In den oberen Etagen wirst du ihn sehen.«
»Und Johnny?«
Da begann die Frau zu lachen. »Er ist das Opfer, nicht mein Sohn. Er und Benny sahen das Skelett. Benny rannte zu mir. Ihm gelang die Flucht. Johnny floh auch, aber in die falsche Richtung.«
»Wohin denn?«
»Er lief hier ins Haus!«
»Und damit in die Falle?«
»So ist es. Johnny lief in die Falle. Hier wohnt das Böse. Er wurde gefangen.«
»Ist er tot?« Es fiel Mrs. Miller sehr schwer, die Frage zu stellen, doch sie mußte es einfach tun.
»Das kann ich dir nicht sagen. Sie haben ihn geholt.«
»Wer sind sie?«
»Die anderen, die Bösen. Aus einer fremden Welt, die sich hier ebenfalls befindet. Du kannst sie nur nicht sehen, das ist alles. Die Mönche hätten nicht töten sollen, damit hat alles begonnen. Der Bandenführer war ein Günstling des Satans. Und die Hölle läßt so leicht keinen im Stich, merk es dir.«
»Das mußt du wissen!«
»Sehr genau sogar. Willst du ihn jetzt sehen, oder nicht. Komm mit hoch, ich zeige ihn dir.«
Christiane Miller zögerte noch. Einerseits hätte sie gern Klarheit gehabt, auf der anderen Seite fürchtete sie sich, denn sie wußte, daß ihr Eliza überlegen war.
Diese stellte sich in Positur wie eine Schauspielerin und deutete zur Treppe hin. »Dort ist der Weg. Es bleibt dir unbenommen, ihn zu nehmen, Chrissy.«
»Und was wird dann passieren?«
»Du wirst es sehen, Mädchen.«
»Was ist, wenn ich nicht will?«
Sie lachte Chrissy an. »Bleib hier und harre der Dinge, die noch auf dich zukommen werden.«
Das Haus war sehr groß. Chrissy wußte nicht, ob sie sich in den oberen Räumen verlaufen würde. Außerdem war Eliza gefährlich und hinterlistig. Die hatte bestimmt noch einen Trumpf im Ärmel.
»Willst du nun oder willst du nicht?«
»Ich gehe mit dir!« Chrissy hatte sich entschlossen. Sie vernahm das Lachen der anderen Frau. »Das freut mich sehr. Es freut mich sogar außerordentlich, komm.«
Sie ging sogar vor. Als Chrissy den Fuß auf die erste Stufe setzte, wollte sie wieder zurück und zuckte auch schon, dann aber ging sie weiter. Nein, jetzt nur nicht kneifen und die Flinte ins Korn werfen.
Sie mußte es hinter sich bringen.
Das Kloster war leergeräumt worden. Die Wände wirkten auf Chrissy grau, schmutzig und tot. Dennoch bekam sie den Eindruck, als würde sich in ihnen etwas verbergen, das auf keinen Fall ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollte.
Das erste Stockwerk ließen sie hinter sich. Christiane gelang es, noch einen Blick in den Gang zu werfen, der breit, dämmrig und kahl in die Tiefe des Hauses führte. Sie sah auch das matt glänzende Holz der Türen. Sie waren allesamt verschlossen.
Eliza drehte sich nicht einmal um. Unbeirrt schritt sie weiter ihrem Ziel entgegen.
Die nächste Etage!
Auch hier bot sich den Frauen das gleiche Bild. Der breite, leere Gang, die Türen, aber eine von ihnen stand zur Hälfte offen, und Eliza betrat den Flur.
»Hier geht es hinein.«
Christiane Miller hatte weiche Knie bekommen, als sie der unheimlichen Nachbarin folgte. Ihre Lippen zuckten ebenso wie das Fleisch an den Wangen.
Was würde man ihr zeigen?
Ein totes Kind, ein lebendes, eines, das sich verändert hatte?
Eliza hatte die Tür bereits erreicht. Sie streckte den Arm aus und deutete auf das offene Zimmer. »Du bist am Ziel deiner Wünsche angelangt, meine Liebe.«
Plötzlich spürte Chrissy Miller das Zittern in den Knien. Es kam ihr vor, als würde sie zu ihrer eigenen Hinrichtung schreiten. Der Hals saß zu, ein Klumpen steckte darin.
»Na, geh weiter!« Eliza berührte ihren Rücken dicht unterhalb der Schulterblätter.
Chrissy schauderte. Die Hand hatte sich so kalt angefühlt, als gehörte sie einer Toten.
Mit einem großen Schritt überwand sie die Schwelle, schaute in den leeren Raum und sah auch nach rechts.
Dort stand der Junge!
Er lehnte mit dem Rücken an der Wand. Sein rotes Haar war struppig wie immer, der Mund zu einem breiten Lächeln
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