051 - Die gelbe Schlange
korrigierte Letty mit einiger Schärfe. »Und -«
Es klopfte an die Tür. Letty, die am nächsten stand, öffnete und der Diener kam herein.
»Unten wartet ein Herr, der Miss Joan sprechen möchte«, meldete er.
Letty nahm ihm die Besuchskarte ab.
»Clifford Lynne«, las sie atemlos, und Joan lachte.
»Das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Sache in Ordnung zu bringen, Mabel«, bot sie ihr, nicht ohne eine Spur von Bosheit, an. »Er muß ja nach seiner Ansicht gefragt werden.«
Letty wurde rot und blaß.
»Untersteh dich ja nicht!«, rief sie heftig. »Ich würde es dir niemals verzeihen, wenn du ihm auch nur ein Wort von unserer Unterhaltung sagtest!«
Doch Joan war schon die Treppe hinuntergeeilt.
Sie trat ins Wohnzimmer und achtete nicht auf die scharfen Befehle, die im Flüsterton von oben her noch gegeben wurden. Joan verspürte eine fast unbezwingbare Lust, laut zu lachen, denn wenn man sie das Aschenbrödel nannte, konnten Letty und die dicke Mabel nur die beiden häßlichen Schwestern sein.
Clifford stand am Fenster und schaute über den Rasenplatz. Als er das öffnen der Tür hörte, drehte er sich schnell um und fragte in seiner abrupten Art und ohne irgend eine Einleitung:
»Kann ich Sie heute abend sehen?«
»Warum - ja, sicher«, antwortete sie. »Ich werde allein sein, die Mädchen fahren in die Stadt.«
»Ach, wirklich?« Er rieb sein Kinn. »Nun das ist egal, ich möchte Sie im Landhaus sehen. Werden Sie kommen, wenn ich Sie anrufe?«
Die Anstandsregeln spielten für Joan keine große Rolle; sie war so selbstsicher und so überzeugt von der Korrektheit ihrer eigenen Verhaltensweise, daß sie sich wenig um die Meinung anderer Leute kümmerte. Aber dieser Vorschlag stimmte nicht ganz mit ihren eigenen Anschauungen über gutes Benehmen überein.
»Ist das notwendig?« fragte sie daher. »Aber ich weiß, Sie würden mich nicht auffordern, wenn Sie nicht einen bestimmten Grund dazu hätten. Ich werde also kommen.«
»Ich habe sogar einen ganz bestimmten Grund«, bestätigte er.
»Ich möchte, daß Sie jemand bei mir treffen.« Nervös fuhr Clifford sich durch das Haar. »Meinen Freund - ich müßte sagen, unseren Freund.« Joan wunderte sich über seine Erregung, es mußte schon etwas ganz Außergewöhnliches sein, das ihn so aus der Fassung bringen konnte.
»Ich werde Sie um zehn Uhr abholen«, bestimmte er. »Übrigens, Joan, - ich habe über alles nachgedacht, und ich bin ziemlich beunruhigt.«
Instinktiv wußte sie, daß sie selbst die Ursache seiner Sorgen war.
»Haben Sie es sich anders überlegt?« neckte sie ihn. Er schüttelte den Kopf.
»Sie meinen unsere Heirat? Nein. Ich habe sowieso nicht an das Ende dieses närrischen Abenteuers gedacht. Wenn ich nicht ein so übertriebenes Pflichtgefühl hätte - aber das hat nichts mit dieser Sache zu tun. Wir müssen die Lage heute abend von einem völlig neuen Gesichtspunkt aus betrachten. Ich bin so weit gegangen und habe so viel gelitten -«
»Gelitten?« Er nickte heftig.
»Ihnen ist es durch die Vorsehung der Natur erspart geblieben«, sagte er düster, »die Qualen durchzumachen, die es bedeutet, sich einen langen, kostbaren Bart wachsen zu lassen. Es war nicht so arg, als ich noch in meinem kleinen Haus in Siangtan lebte; schlimm wurde es aber, als ich in nähere Berührung mit der Zivilisation kam. Können Sie sich überhaupt eine Vorstellung davon machen, was es bedeutet, sich zum Dinner umzukleiden und dabei in den Hemdkragen ein langes, ziependes Büschel Haare mit einzuknöpfen?... Na ja, das ist vorbei, und nun -« er zögerte etwas verlegen, - »tut es mir nicht mehr leid.«
»Daß Sie sich den Bart haben stehenlassen?« fragte sie unschuldig.
Clifford sah ihr in die Augen.
»Sie wissen doch ganz genau, daß ich nur von Ihnen spreche. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, Sie genauer kennenzulernen. Möglicherweise sind Sie launisch -«
»Unberechenbar«, gab sie zu.
»Und vielleicht sind Sie eitel und hohlköpfig«, fuhr er mit großer Gemütsruhe fort. »Alle hübschen Mädchen sind eitel und hohlköpfig; das ist eine der Lektionen, die ich auf den Knien meiner altjüngferlichen Tante gelernt habe, als sie mich aufzog. Aber trotz dieser Schattenseiten mag ich Sie. Merkwürdig, nicht wahr?«
»Es wäre merkwürdig, wenn Sie es nicht täten?« paßte sie sich ihm an, und er lachte. »Haben Sie übrigens Ihren Mord begangen, Cliff?«
Er stutzte.
»Meinen Mord? Ach, Sie meinen an Fing Su? Nein, ich fürchte,
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