051 - Duell mit den Ratten
Als sie vorsichtig hinter einen schweren, geschnitzten Holzschrank lugte, fiel ihr Blick auf eine unheimliche und grausige Szenerie.
Im Licht einer Kerze sah sie eine nackte Frau, die mit gegrätschten Armen und Beinen dastand. Ihre Arme waren an einen Balken gekettet, ihre Beine steckten in schweren Schellen, die im Boden verankert waren. Ihr ganzer Körper war mit bunter Schminke bemalt, ihr Gesicht zu einer Clownmaske entstellt. Ihr Mund stand weit offen, und Coco stellte entsetzt fest, daß ihre Kiefer mit einer Spange auseinandergehalten wurden.
Das mußte Judy Skeates sein! Zu ihren Füßen hockte Prosper und hantierte an einem fünfzig Zentimeter hohen Holzgestell herum, dessen Bedeutung Coco nicht sofort klar wurde. Neben ihm stand der Käfig mit dem Papagei.
»Na, sind Sie nicht erfreut darüber, daß ich Ihnen diesmal Ihren gefiederten Liebling mitgebracht habe?« fragte Prosper scheinheilig. »Ich habe mir gedacht, daß es auf die Dauer für Sie recht eintönig sein muß, wenn ich Ihnen immer nur Ratten zum Spielen mitbringe.«
Das Mädchen gab einen unartikulierten Laut von sich. Prosper blickte auf.
»Was haben Sie gesagt?« fragte er. »Wollten Sie mir zu verstehen geben, daß Sie sich vor Ratten fürchten? Das habe ich mir selbst schon gedacht, Miß Skeates. Ich habe nämlich schon lange gewußt, daß Sie sich vor Ratten fürchten. Seit damals, als ich Ihnen einige dieser niedlichen Tiere ins Bett legte. Deshalb habe ich diesmal auch Ihren Papagei mitgebracht. Ich wollte Ihnen eine besondere Freude machen. Denn wir stehen unmittelbar vor einem großen Ereignis.«
Er hantierte wieder an dem Holzgestell herum. Coco erkannte jetzt genau, was es darstellte: Es war eine maßstabgetreue Nachbildung einer Guillotine. Prosper zog an einer Schnur das Fallbeil hoch, bis es an seinem höchsten Punkt einrastete.
»So«, sagte er zufrieden. »Ja, Miß Skeates, wir stehen vor einem bedeutungsvollen Ereignis. Ich weiß nicht genau, was auf uns zukommt, aber ich fühle, daß sich etwas Einmaliges zusammenbraut. Deshalb will ich Ihnen auch ein außergewöhnliches Schauspiel bieten. Sehen Sie diese Miniatur Guillotine, Miß Skeates? Ist sie nicht ein Meisterwerk? Theo hat sie für mich gebastelt. Es muß eine Heidenarbeit gewesen sein, all die vielen Einzelteile herzustellen und zusammenzubauen. Dennoch war das Ergebnis von Theos Bemühungen nicht perfekt. Ich mußte das Fallbeil noch zusätzlich mit Bleigewichten beschweren, um eine einigermaßen befriedigende Wirkung zu erzielen.«
Prosper machte eine Handbewegung, und das Fallbeil sauste krachend in der Führungsschiene nach unten.
Coco zuckte unwillkürlich zusammen.
»Passen Sie jetzt auf, Miß Skeates!« sagte Prosper. Er öffnete den Käfig und holte den kreischenden und mit Flügeln und Beinen um sich schlagenden Papagei heraus. Aus Judys Kehle kam ein krächzender Laut.
»Was ist denn, Miß Skeates?« fragte Prosper mit gespieltem Erstaunen. »Wollen Sie nicht, daß ich die Guillotine ausprobiere? Aber sicher wollen Sie es. Sehen Sie nur!«
Prosper zog an der Schnur, bis das Fallbeil wieder am höchsten Punkt einrastete. Dann legte er den Kopf des in Todesangst schreienden Papageis zwischen den beiden Führungsschienen auf den Sockel. Und im nächsten Augenblick sah Coco das blitzende Fallbeil hinunter sausen. Sie hörte das verzweifelte Kreischen des Papageis und hielt sich die Ohren zu. Als sie die Arme wieder sinken ließ, war es auf dem Dachboden still geworden.
Coco zog sich schnell zurück. Sie hatte genug gesehen und wußte jetzt, wo ihre Vorgängerin gefangen gehalten wurde. Nun mußte sie machen, daß sie zurück auf ihr Zimmer kam, denn sie hatte dort um Mitternacht mit dem Puppenmann Donald Chapman eine Verabredung.
Der Dreißig-Zentimeter-Mann erwartete sie bereits. Er saß auf dem Nachtkästchen und ließ die Beine herunterbaumeln. Coco setzte sich wortlos neben ihm aufs Bett.
»Wo warst du denn, Coco?« fragte Chapman mit seiner schwachen, aber auf diese Distanz klar verständliche Stimme. »Ist etwas passiert? Du müßtest einmal dein Gesicht sehen!«
»Ich habe Judith Skeates gefunden«, sagte Coco tonlos. »Sie wird auf dem Dachboden gefangen gehalten – an Händen und Füßen gefesselt und einer der Zöglinge hat gerade vor ihren Augen ihren Papagei geköpft.«
»Das ist ja furchtbar!« sagte Chapman. »Ist dieser Zögling vielleicht der von uns gesuchte Dämon?
Wie heißt er?«
»Es ist Prosper Fludd, der auch
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