051 - In den Katakomben des Wahnsinns
verlassen. Sie biss sich in
der Anspannung so heftig auf die Lippen, dass Blutstropfen hervorquollen. Der
geringste Ausrutscher genügte jetzt, um ihre Pulsadern aufzuschlitzen. Dann war
es aus! Sie würde hilflos verbluten.
Noch ein geringer Druck. Die Agentin spürte, wie die Schlaufe über ihrem
Armgelenk nachgab.
Plötzlich riss der Gurt.
Die Schwedin nahm sich nicht die Zeit, erst eine Verschnaufpause
einzulegen. Sie wusste nicht, wie lange ihr geheimnisvoller Gegner abwesend war
und nutzte deshalb jede Sekunde.
Mit zitternden Fingern griff sie das Skalpell richtig und schnitt damit die
Schlaufe über der rechten Hand durch. Dann konnte sie den Oberkörper frei
bewegen, richtete sich auf und beugte sich nach vorn. Die Gurte um beide
Fußgelenke bildeten keine Schwierigkeiten mehr.
Die Schwedin stieg langsam vom Operationstisch herunter. Ihre Glieder waren
schwer wie Blei und X-GIRL-C musste sie erst massieren, um das Blut wieder in
Wallung zu bringen. Ein leichter Schwindelanfall ließ sie taumeln, als sie sich
erhob.
Sie blickte sich um und tastete dann mechanisch nach dem goldenen Kettchen,
das sie stets am Handgelenk trug und an dem ein kleiner goldener Anhänger
befestigt war.
Wie von einer Tarantel gestochen zuckte sie zusammen.
Das Armband war weg !
Sie schluckte.
Verzweifelt dachte sie darüber nach, wo sie es verloren haben könnte, aber
es fiel ihr nicht ein.
Im Kampf mit der hässlichen Frau? Nein, danach hatte sie es noch gehabt. Vorhin, als sie
fliehen wollte – war es ihr beim Zugriff der unheimlichen Gestalten vom
Handgelenk gerissen worden, ohne dass sie es bemerkte? Sie konnte sich nicht
erinnern. Oder hatte ihr geheimnisvoller Gegner, der sie hier auf den Tisch
geschafft hatte, das Armband abgenommen?
Dies war noch am wahrscheinlichsten.
Den Anhänger konnte man abreißen, das konnte passieren, aber es wäre ihr
sofort aufgefallen, wenn sich das ganze Armband gelöst hätte.
Sie tastete auf dem Operationstisch herum und suchte auch darunter. Sie
fand nichts. Morna Ulbrandson wagte es nicht, Licht zu machen. Sie wollte nicht
unnötigerweise auf sich aufmerksam machen.
Sie war frei – und doch noch genauso gefangen wie zuvor.
Es gab keine Möglichkeit, die PSA zu verständigen. Sie war wieder auf sich
allein gestellt ...
Scheu tastete sie nach ihrem Kopf. Sie wusste, was sie erwartete, und doch
durchrieselte sie ein eiskalter Schauer, als sie merkte, dass ihr Schädel
vollkommen glatt war.
Sie musste raus hier, bevor die Dinge sich weiter zuspitzten. Die Schwedin
ließ das Skalpell nicht los. Wie einen Dolch trug sie es in der Hand.
Sie blickte sich um. Alles war noch ruhig. Sie starrte in die Finsternis
der Gewölbe. Den einen Weg kannte sie. Er führte in die Sackgasse zu dem
vermauerten Zimmer. Doch es musste noch einen anderen Ausgang geben.
Langsam drehte sie sich im Kreis, löste sich vom Operationstisch und ging
in die Finsternis.
Sie musste hier weg. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken und dem
Gegner aufzulauern.
Morna hatte es im Übrigen mit mehreren zu tun. Ihre Kräfte waren erschöpft.
Sie brauchte erst mal Ruhe, Übersicht und Sicherheit, ehe sie sich zu weiteren
Maßnahmen entschloss. Trotz aller Schwierigkeiten war sie doch einen
entscheidenden Schritt weitergekommen. Sie hatte den Ausgangspunkt der
Verbrechen gefunden – und nach und nach beantworteten sich plötzlich all die
Fragen, die sie vor Stunden noch gehabt hatte, von selbst.
Nur eines konnte sie noch nicht verstehen: was für eine Bedeutung der Name
Sanders hatte. Warum nannte sich ihr Widersacher so? Wie kam er darauf?
Sie bewegte sich auf Zehenspitzen durch den Raum. Neben dem großen
Instrumentenschrank befand sich eine schmale Tür. Sie war nur mit einem
einfachen Riegel gesichert. Morna legte ihn um. Lautlos zog sie die Tür auf –
und prallte zurück. Sie sah die drei Leichen. Jeanne Rowley, Stuart White und
...
»Ann Muller?«, kam es wie ein Hauch über ihre bleichen, blutenden Lippen.
Sie hatte ein Bild der Toten gesehen.
Ann Muller und Helen Carter waren einmal dieselbe Person – erinnerte sie
sich. Und sie dachte an das, was der angebliche Sanders ihr noch gesagt hatte.
Ann Muller, deren Kopf einen neuen Körper bekommen hatte, wusste nichts mehr
von ihrem früheren Dasein. Morna, die wie jede Agentin und jeder Agent der PSA
über biologische und medizinische Kenntnisse verfügte, wusste aber auch, dass
ein Gehirn empfindlichen Schaden erlitt, wenn die grauen Zellen länger
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