0511 - Fenster der Angst
verrückt wurden. Obwohl sie noch ziemlich jung war – erst achtzehn – verstand sie es, die Waffen einer Frau einzusetzen. Es gab damals nicht sehr viele junge Männer hier. Wir alle aber wollten sie, und sie erhörte keinen von uns.«
»Auch dich nicht?«
»Nein, Tochter, nein.«
»Dann ist doch alles…« Das Wort klar wollte Harriet nicht über die Lippen, weil sie sah, wie die Wangen ihres Vaters zuckten, als er anfing zu weinen. »Oder doch nicht?«
Chester Bright holte ein Taschentuch hervor, wischte über seine Augen und putzte sich die Nase. »Nichts ist klar«, sagte er mit rauher Stimme. »Überhaupt nichts. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Ich war damals wie von Sinnen und lauerte ihr auf.«
»Wo, Vater, wo?«
Er hob den Kopf. »Im Wald, wo uns keiner sah. Da ist es dann geschehen, Harriet.«
»Ge… gegen ihren Willen?«
»Ja.«
Harriet holte tief Luft. Und ihre Frage kam nur zögernd über ihre Lippen. »Also eine Vergewaltigung?«
»Es stimmt. Ich… ich habe sie vergewaltigt«, erklärte der Mann mit leiser Stimme. »Ich habe sie genommen. Mit Gewalt nahm ich sie. Es war schrecklich.«
»Und sie?«
»Hat sich nicht einmal gewehrt. Sie lag da wie tot. Ich befand mich in einem Rausch, ich nahm ihr die Unschuld. Und dann, als ich wieder bei Sinnen war, da erhob sie sich, blieb vor mir hocken, starrte mich an und begann zu lachen. Ja, Harriet, sie lachte nach dieser Schande. Sie lachte mich aus. Noch heute – Jahre später - habe ich dieses Geräusch in den Ohren. Ich fühlte mich damals nicht als Sieger, als ich dieses Lachen hörte. Sie aber ordnete ihre Kleider und sagte einen folgenschweren Satz, dessen Bedeutung ich erst heute richtig erkannt habe. ›Wer sich an der Tochter eines Dämons vergeht, wird es sein Leben lang bereuen.‹ Danach ging sie fort.«
Chester Bright schwieg. Harriet saß unbeweglich vor ihrem Vater und dachte über dessen Worte nach. Die Tochter eines Dämons, das konnte sie nicht fassen.
»Welches Dämons?«
»Ich habe keine Ahnung. Sie war ein Findelkind und ist vom Ehepaar Davies aufgenommen worden. Auch sie wußten angeblich nicht, wer die Eltern waren. Vielleicht hat sie recht gehabt. Möglicherweise war sie ein Kind des Teufels, eine Ausgeburt der Hölle, mit den Schönheiten einer jungen Frau ausgestattet. Ich weiß es nicht, ich werde es auch niemals wissen. Ich habe sie all die Jahre nicht vergessen, aber ich stand stets unter Druck. Sie hat Ken, deinen Bruder, getroffen. Mich wollte sie nicht töten, sie wußte genau, daß die Kinder meine Schwachstellen sind, und sie hat es geschafft.« Er hob die Schultern. Die Geste wirkte hilflos. »Sogar als Tote hat sie es geschafft!«
Harriet schwieg. Sie wußte nicht, was sie ihrem Vater auf dieses Geständnis hin antworten sollte.
Konnte sie ihn verurteilen, verdammen? Nein, sie besaß nicht das Recht dazu. Harriet war später geboren worden, die hatte die fünfziger Jahre mit all ihren Frustrationen nicht erlebt, mit der falschen Scham der Menschen, die oft so moralisch taten, nach außen hin ein anderes Gesicht zeigten, als sie tatsächlich besaßen. Sie waren Gefangene ihrer Zeit gewesen, ähnlich wie im viktorianischen Zeitalter.
Harriet rutschte vor. »Dad«, sagte sie leise und hielt ihrem Vater die Hand entgegen. »Dad, jetzt kommt es allein auf uns an. Was einmal war, das ist vorbei. Ich jedenfalls werde es vergessen.«
Er schaute sie an. Tränen schimmerten in seinen Augen, und Chester mußte schlucken. »Ist das wirklich vergessen?«
»Ja, ich werde nichts sagen. Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Es steht mir als deiner Tochter nicht zu, dich zu verurteilen. Du warst uns stets ein guter Vater…«
»Meinst du es ehrlich?«
»Dad, ich kann dich nicht belügen.«
Chester Bright schaute Harriet an. Sie sah das Zucken in seinem Gesicht, die Aufwallung seiner Gefühle, und sie wußte auch, was ihr Vater jetzt brauchte.
»Dad, mein Gott!« Sie umarmten sich, und sie blieben in dieser Haltung stehen.
Ken Bright aber hockte nach wie vor steif in seinem Sessel. Sein Blick war glanzlos. Er stierte ins Leere, seine Arme lagen auf den Sessellehnen, und die Finger trommelten wie im Rhythmus einer nur für ihn hörbaren Melodie…
***
Ich bekam ein ungutes Gefühl. Irgendwie ging es mir nicht gut, ich war mir meiner Sache nicht mehr sicher und blieb dort stehen, wo die Kirche bereits ihren langen Schatten warf.
Der Nebel hatte sich auch am Nachmittag nicht aufgelöst. Im Gegenteil, er war
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