0511 - Fenster der Angst
dicker geworden. Schwaden krochen lautlos durch den Ort, hingen fest wie Gardinen und ließen die Menschen aussehen wie Gespenster aus einer anderen Welt.
Suko und ich waren nicht allein unterwegs. Einige Trauergäste hatten sich noch länger auf dem Friedhof aufgehalten und verließen das Gelände erst jetzt.
Sie kamen auf uns zu. In der schwarzen Kleidung wirkten sie unheimlich. Als sie uns entdeckten, schlugen sie einen Bogen, als wären wir Aussätzige.
Auch den Pfarrer sahen wir. Er mußte an uns vorbei, um sein Haus neben der Kirche zu erreichen. Er blieb stehen. »Sie sind ja noch immer in der Nähe«, sprach er uns an. »Haben Sie nicht schon genug Unheil angerichtet? Verlassen Sie Rippon doch.«
»Nein, Herr Pfarrer«, erklärte ich. »Unsere Aufgabe hier ist noch nicht beendet. Sie haben selbst erlebt, daß das Unwahrscheinliche wahrscheinlich wurde. Sie hätten beinahe einen Menschen begraben, der noch nicht gestorben war. Wir haben den Menschen retten können. Diejenige Person allerdings, die sich für sein Schicksal verantwortlich zeigte, existiert nach wie vor.«
»Es kann sie doch nicht geben!«
»Nur weil Sie sie nicht gesehen haben?«
»So ist es.«
»Sie lebt als Geist, Herr Pfarrer.«
Er verzog die Mundwinkel. »Geister gibt es nicht, so wie sie es sehen. Ich will nicht abstreiten, daß sie uns umgeben, aber ich sehe das im religiösen Sinne.«
Streit wollte ich auf alle Fälle vermeiden. »Bitte, geben Sie uns noch zwei Stunden.«
»Und dann?«
»Werden wir Rippon möglicherweise verlassen können. Zudem habe ich noch eine Bitte.«
»Nein!« wehrte der Geistliche ab. »Ich mache nichts, was mich ins Unrecht setzt.«
»Das brauchen Sie auch nicht. Ich möchte nur von Ihnen erfahren, wo wir das Grab der Julia Ashley finden können.«
Er starrte mich scharf an. »Julia Ashley. Was wollen Sie von ihr? Das Grab öffnen?«
»Möglicherweise.«
»Das ist verboten.«
»Wo finden wir es?«
Der Geistliche gab sich geschlagen. »An der Mauer«, sagte er leise.
»Es befindet sich an der Mauer. Nordseite. Es ist verwildert. Sie können es daran erkennen, daß es etwas erhöht liegt. Manchmal stehen auch Blumen auf ihm.«
»Ich danke Ihnen.«
Der Pfarrer ging mit eiligen Schritten weg, als wäre er froh, uns endlich nicht mehr sehen zu müssen.
Suko stieß mich an. »Los, gehen wir!«
»Ja, aber getrennt.«
»Wie meinst du?«
»Suko, wir müssen uns teilen. Ich werde mich um das Grab kümmern. Du weißt, wo der Totengräber wohnt. Er steht in einer unmittelbaren Beziehung zu Julia Ashley. Möglicherweise hast du bei ihm mehr Erfolg als ich mit meinem Besuch an ihrem Grab.«
»Gibt es einen bestimmten Grund?«
»Das nicht. Ich reagiere rein gefühlsmäßig. Du kennst die Bude des alten Davies?«
»Klar, ich weiß, wo sie liegt. Dann bis gleich.«
Mein Freund verschwand. Nach ein paar Schritten schon hatte ihn der weißgraue Nebel verschluckt…
***
Der Inspektor war um den Friedhof herumgegangen. Vorbei an der feuchten, mit Moos und Flechten bewachsenen Mauer, die ebenfalls von dicken Nebelschwaden umweht wurde.
In dieser Gegend standen keine Häuser mehr, bis eben auf eine schiefe Hütte, die Bleibe des Totengräbers.
Es war ein Haus, das auch ins Mittelalter gepaßt hätte. Ein schiefes Dach, weit vorgezogen über das Unkraut des Vorgartens.
Aus dem Schornstein quoll kein Rauch. Es mußte kalt in der alten Bude sein, und Suko entdeckte kein Zeichen von Leben, bis er den gelbroten Schein sah, der hinter einem der schmutzigen Fensterscheiben zitternd aufleuchtete.
Nach elektrischem Licht sah dies nicht aus. Suko rechnete mit Kerzenschein.
Er klopfte gegen die alte, schiefe Tür, ohne eine Reaktion zu hören.
Dann öffnete er.
Die Tür knarrte und scheuerte. Spätestens jetzt hätte er gehört werden müssen, dennoch zeigte sich niemand. Er zog den Kopf ein, um nicht mit den Haaren an der Decke entlang zu scheuern, folgte dem sich auf dem Boden abzeichnenden, flackernden Lichtschein und gelangte in den von Kerzen spärlich beleuchteten Wohnraum, der mehr einer Rumpelkammer glich.
Der Raum war leer.
Suko wollte auf Nummer Sicher gehen. Er schaute hinter die alten Möbelstücke, faßte nur in Staub und Spinnweben, bekam schmutzige Hände und gelangte in die Nähe des Fensters.
Die Scheibe war so blind, daß er kaum hindurchsehen konnte.
Hinzu kamen die treibenden Nebelschwaden, die als lange Arme an der Scheibe vorbeiwehten.
Sein Blick fiel nicht auf die Straße oder
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