0518 - Der Vampir von Versailles
nicht einmal bemerken, da sie mehr Kleider besitzt, als sie in einem Jahr tragen kann, selbst wenn sie täglich ein anderes trägt.«
»Trotzdem möchte ich ihr lieber nicht in diesem Zwirn begegnen«, murmelte Nicole und sah sich um. »Ich schätze mal, daß der Kleiderschrank größer ist als Don Fuegos gesamtes Zimmerchenkontigent.«
»Diese Schätzung kommt der Wahrheit recht nahe, Mademoiselle Nicole«, bestätigte der Gnom.
»Beaufort«, murmelte Nicole. »Es fällt mir garantiert wieder ein, woher ich sie kennen müßte. Sag mal, mein Freund… du kennst dich doch sicher von früheren Aufenthalten hier aus. Wo bekommt man eigentlich zu dieser späten Stunde noch etwas zu essen?«
»Sicher bei Madame Beaufort. Sie pflegt stets sehr spät zu Abend zu speisen und läßt sich die Mahlzeit eigens in ihre Räumlichkeiten bringen; meist, wenn ihr Gemahl bereits ermattet von des Tages schweren Plaudereien in erquicklich tiefes Schnarchen verfallen ist.«
»Ich wollte ohnehin eine Schlankheitskur machen«, entschied Nicole. »Gibt’s denn keine Pommes-frites-Bude auf dem Gelände?«
***
Rebecca Deveraux war froh darüber, daß sie endlich wieder allein war. Sie hatte schließlich auch Renard wieder abwimmeln können. Ihr war bewußt, daß sie ihn verärgert hatte. Aber sie konnte nicht anders handeln. Sie mußte allein sein in den Nächten.
Der dicke Spanier und sein seltsamer, koboldhafter Diener waren ihr noch lästiger gewesen. Nur um sie loszuwerden, hatte sie in den verrückten Vorschlag eingewilligt, ihrer Herrin ein paar Kleider zu stibitzen. Sicher würde Madame Beaufort das nicht bemerken. Und wenn… es spielte keine Rolle mehr. Die Herrin war ihr gleichgültig geworden. Es gab Wichtigeres.
Als endlich auch Renard gegangen war, verriegelte Rebecca ihre Tür und öffnete das Fenster.
Sie streckte sich auf ihrem Bett aus und erwartete den nächtlichen Besucher. Es war dunkel geworden; er mußte bald kommen. Er hatte es versprochen.
***
Nachdrücklich hatte Nicole erklärt, dieser Madame Beaufort auf keinen Fall unter die Augen kommen zu wollen. Zamorra hatte den Gnom schließlich überredet, mit ihm gemeinsam auf »Beutezug« zu gehen. Daß Don Cristofero derweil in Milch watete, schien der Gnom aus seiner Erinnerung verdrängt zu haben, und auch Zamorra fühlte sich durch diesen Gedanken nicht sehr gestört. Nicole und ihn hungerte, das war wichtiger.
Nicole selbst hielt es auch nicht in dem winzigen Quartier. Sie wußte, daß es eine Weile dauern würde, bis Zamorra und der Gnom mit Eßbarem zurückkehrten. Vielleicht mußten sie erst die Küche wieder neu anheizen oder das Küchenpersonal überreden, die Vorratskammer zu öffnen. Wie auch immer - Nicole wollte weder allein in der Dienstbotenkammer hausen noch Don Cristofero Gesellschaft leisten. Statt dessen zog es sie aus dem verstaubten Gemäuer an die frische Luft.
Sie prägte sich die Lage ihres Gemaches ein und verließ das Gebäude, um einen kleinen Abendspaziergang durch den Park zu machen. Trotz der Dunkelheit und obgleich noch längst nicht alles fertig war, ließ sich erahnen, welches gärtnerische und gartenarchitektonische Kunstwerk hier entstand. Auch etliche der Statuen waren bereits aufgestellt worden. Nicole nahm sich vor, sie bei Tageslicht noch einmal in Augenschein zu nehmen.
Am Nachthimmel hatte sich Frau Luna breitgemacht und sorgte mit ihrem Licht dafür, daß kein nächtlicher Spaziergänger auf den Wegen stolpern mußte. Plötzlich entdeckte Nicole eine Bewegung am Himmel. Für einen Vogel war es zu groß, und Flugzeuge gab es in dieser Zeit noch nicht…
Das Etwas flatterte am Mond vorbei und stieß auf das Schloß herab. Nicole glaubte, eine Fledermaus zu erkennen, aber das Ding war viel zu groß für einen dieser Nachtschwärmer, die zudem dunkle Höhlen und Ruinen bevorzugten, nicht aber helle und von Menschen übervölkerte Bauten.
Im nächsten Moment war das flatternde Etwas schon verschwunden, aber am Fuß des Gebäudetraktes bemerkte Nicole einen Mann, der rasch davoneilte und dem nächsten Eingang entgegenstrebte.
Sie bewegte sich etwas seitwärts, um die Gebäudefassade besser überblicken zu können. Stand da nicht im zweiten Obergeschoß ein Fenster offen!
»Du siehst Gespenster, Mädchen«, murmelte sie im Selbstgespräch. Aber etwas in ihr raunte ihr zu, daß Gefahr im Verzug war. Nicht für Nicole, sondern für andere Menschen. Zum Beispiel für jemanden, der hinter dem offenen Fenster wohnte.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher