052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
sich wohltuend auf sie aus.
Sie gab einen knappen aber inhaltsschweren Bericht. Lecquell unterbrach sie
während der Fahrt nach oben nicht ein einziges Mal. Es hörte sich einfach
unglaublich an, aber keiner der Zuhörenden war in dieser Sekunde bereit, auch
nur im Geringsten an dem zu zweifeln, was diese junge Studentin ihnen erzählte.
Sie standen mitten im Leben, sie wurden tagtäglich mit den ungewöhnlichsten
Verbrechen konfrontiert. Es war erschreckend, was heutzutage alles geschah. Die
Männer, die auf der Seite des Gesetzes standen, mussten ihre Anstrengungen
verstärken, um gegen die anzukommen, die gegen das Gesetz verstießen!
Larry Brent wusste, warum er gerade diesen Beruf erwählt hatte. Er konnte
den Schwachen und Hilflosen helfen, denen, die in Not und in Angst gerieten,
und die sich nicht selbst aus dieser Angst befreien konnten, weil ihnen die
Kraft dazu fehlte. X-RAY-3 sah die junge, hübsche Französin an. Vielleicht
konnte er auch ihr helfen.
Schweigend verliefen die letzten Sekunden. Dann stoppte der Lift. Die Tür
wich zurück.
»Hier, gleich rechts ist meine Wohnung«, sagte Michele Claudette. Mit der
einen Hand hielt sie den Mantel umfasst, in den sie geschlüpft war, bevor sie
aus der Wohnung rannte. Mit keinem Gedanken dachte sie daran, dass sie darunter
nackt war. Es störte sie auch nicht. Das Gefühl der Sicherheit, das immer mehr
zunahm, wischte alles aus.
»Die Tür steht halb offen!«, bemerkte Lecquell erstaunt. Claudette zuckte
die Achseln. »Das ist möglich. Ich glaube, ich bin nach dem Telefonanruf wie
von Sinnen davongestürzt.« Lecquell nickte. Das war zu verstehen. Verwirrung,
Angst und Ratlosigkeit hatten sie in diesen zurückliegenden Minuten erfüllt.
In der Wohnung brannte noch Licht. Auch das hatte Michele offensichtlich in
der Hast vergessen. Sofort nach seinem Eintritt in die Wohnung sah Lecquell die
schwarzrote Reisetasche auf dem Wohnzimmertisch. Sie war geöffnet.
Michele Claudette blieb im Flur zurück. »Dort ist es «, flüsterte sie kaum hörbar.
Der Kommissar gab dem Uniformierten einen Wink, in der Nähe Michele
Claudettes zu bleiben, während er mit dem amerikanischen Spezialagenten ins
Wohnzimmer ging.
Von ihrem Platz im Korridor draußen beobachtete Michele Claudette die
beiden Männer, die sich an der Tasche zu schaffen machten.
»Das Paket – liegt hinter der Tasche, Kommissar. Ich habe es
herausgenommen, und ...«
»Würden Sie bitte mal einen Moment hereinkommen, Mademoiselle«, unterbrach
die Stimme Lecquells sie.
Michele Claudette fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Sie sollte kommen?
Weshalb? Wie auf einem Tablett ausgebreitet lagen doch die Dinge vor den Augen
der Beamten. Es bedurfte keiner Frage mehr. Alles sprach für sich selbst.
Sie gehorchte wie unter einem Zwang, näherte sich der Schwelle, verhielt in
der Bewegung, tat einen tiefen Atemzug und kam dann auf Lecquell zu. Der
Kommissar trat auf die Seite.
Die Augen von Michele Claudette weiteten sich. Auf der Tischplatte lagen
die fein säuberlich zusammengelegten Handtücher. Ihre Handtücher!
Der Behälter mit den Kosmetika ... Ihr Kamm, der Waschlappen!
Träumte sie ... narrte sie ein Spuk?
Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Alles geriet plötzlich in eine
heftige Wellenbewegung.
Das konnte nicht sein!
Ihre Reisetasche stand auf dem Tisch, vergebens suchten ihre fiebernden
Blicke die blutverschmierte Folie.
Michele Claudette verlor den Halt. Sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Larry
Brent nicht rechtzeitig hinzugesprungen wäre und sie aufgefangen hätte ...
Als sie zu sich kam, dauerte es einige Minuten, ehe sie in die Wirklichkeit
zurückfand. Sie stellte fest, dass die helle Deckenleuchte ausgelöscht war.
Stattdessen brannte jetzt die gedämpfte Stehlampe in der Ecke neben dem
Couchtisch.
Jemand führte ein Glas mit kühlem Wasser an ihre Lippen, und sie trank.
»Danke.« Sie hörte kaum ihre eigene Stimme.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Larry Brent zu ihr.
Sie sah die Umrisse der Männer noch verschwommen. Langsam aber klärten sich
die Gesichter und sie erkannte jeden einzelnen wieder.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie matt. »Ich bin sonst nicht der
Typ, der gleich umkippt.«
»Das alles war zu viel für Sie, Mademoiselle.« Die Stimme von X-RAY-3 klang
sympathisch. Die Nähe dieses Amerikaners tat ihr gut. Larry strahlte
Selbstsicherheit und Überlegenheit aus.
»Es ist alles so, wie ich sagte«, kam es wie ein Hauch über ihre
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