052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
geworden war, ließ sie zur dreißigjährigen
Frau werden.
Sarde hatte erkannt, dass seine aus den Drüsen und den seltenen Pflanzen
gewonnenen Substanzen in der Tat ein ungewöhnliches Mittel darstellten, den
Organismus aufzufrischen und ihn zu verjüngen. Eine Überverjüngung jedoch konnte niemals eintreten. Das Mittel hob nur
den tatsächlichen Alterungsvorgang auf. Der Mensch aber entwickelte sich bis
etwa zum achtundzwanzigsten, auch bis zum dreißigsten Lebensjahr. Von diesem
Zeitpunkt an aber machten sich die ersten Alters-
und Alterungserscheinungen bemerkbar. Die Haut regenerierte sich nicht mehr
so oft, auch die Regeneration der Gehirnzellen erfolgte in längeren
Zeitabschnitten, die Durchblutung ließ nach. Das alles führte zur Alterung.
Würde man einer Dreißigjährigen das Präparat injizieren, dann war kaum
damit zu rechnen, dass sie sich in irgendeiner Form verändern würde. Alle über
dreißigjährigen Frauen aber sprachen auf die Substanz an. Und das war das
Merkwürdige: Sanders behauptete in seinen Schriften, dass die Verjüngung nur
bei Frauen möglich wäre. Er, der Gehirnchirurg, hatte das Gegenteil beweisen
wollen. Durch die Hilfe Pauls hatte er Kontakte zu dem trinkfreudigen
Bestattungsunternehmer Maurice Gudeau aufgenommen, der kein seltener Gast im
Haus der Madame Blanche war.
Gudeau hatte sich bereit erklärt, Leichen zu liefern, damit Sarde zu den so
dringend benötigten Hirnanhangdrüsen kam, die nur dann noch Wert für ihn
hatten, wenn sie nicht länger als drei Tage nach dem Tod einer Person aus der
Leiche entnommen wurden. Gudeau sorgte auch dafür, dass eine männliche Leiche
in die Hände Sardes gelangte.
Sarde unternahm an sich einen Eigenversuch. Er war Mitte der Fünfzig. Es
kam zu keiner Reaktion. Es war, als hätte er sich eine Kochsalzlösung
gespritzt, die wirkungslos verpuffte.
Warum wirkte die Substanz nur bei Frauen? Es war eines der großen
Geheimnisse, das er noch aufzudecken hoffte.
Er legte seine Hände um die Schultern von Blanche. Sie drängte sich an ihn
und legte ihren Kopf an seine Schultern.
»Ich werde alles tun, alles ...«,
sagte er leise.
Seine Lippen berührten ihr seidig schimmerndes, duftendes Haar.
Er hatte schon so viel getan. Er hatte gemordet, er hatte sich des
Leichenraubes schuldig gemacht, und er hatte zum Mord angestiftet! Paul hatte
auf sein Drängen hin einen gefährlichen Mitwisser, der seine Forderungen immer
höher trieb, aus dem Weg geräumt: Maurice Gudeau, den Bestattungsunternehmer.
Ohne diese Quelle war Sarde wieder auf sich allein und die Hilfe von Paul
angewiesen, und er wusste, dass ihm, um den Wünschen Blanches entgegenzukommen,
nichts anderes übrigblieb, als in der nächsten Zeit neue Gräber aufzubrechen,
oder, wenn diese Gelegenheit sich nicht bot, junge Mädchen und Frauen zu
überfallen und zu töten.
Weder er noch sie erschraken bei dem Gedanken an die neuen Verbrechen, die
sich zwangsläufig ankündigten.
Sie, Blanche, liebte das Leben. Ihr neues, junges, faszinierendes Leben.
Ein Leben ohne Alter. Sie war wieder eine junge Frau, sie hatte wieder andere
Begriffe vom Leben, wieder andere Wünsche. Sie konnte wieder lieben .
Mit einer mechanischen Bewegung legte sie ihre Hände um die Hüften des
Mannes, der vor ihr stand.
»Wir haben einen Fehler gemacht«, hauchte sie. Sie hatte eine zärtliche, eine
verführerische Stimme. »Es ging alles so schnell damals, fürchte ich ...«
»Ja, es ging sehr schnell. Wir hatten keine Zeit«, bestätigte er ihr.
»Vielleicht gibt es noch mehr Unterlagen, vielleicht haben wir nicht alles
mitgenommen.«
»Das ist anzunehmen. Die Niederschriften sind auf keinen Fall vollständig.«
Sie löste sich abrupt von ihm. »Ich will es genau wissen! Ich werde das
Haus von Henry Fond auf den Kopf stellen! Vor vier Wochen wimmelte es von
Polizei, das wird jetzt anders sein. Ich werde noch heute nach Alness fahren,
Sarde ...!«
●
Wie geplant, nahm er sein Mittagessen in dem Hotel ein, in dessen oberem
Stock Mireille wohnte.
Jean Ecole erkundigte sich nach ihr, und er erfuhr, dass sie sich auf ihrem
Zimmer befände.
»Nummer 125 ...«Er spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, sie rufen zu
lassen und sie zum Mittagessen einzuladen. Aber dann ließ er diese Idee wieder
fallen. Einen Lift gab es in dem vierstöckigen Altbau nicht. Er musste über die
Treppen in den zweiten Stock hinaufgehen. Als er vor der Tür stand, zögerte er
noch einige Sekunden, ehe er
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