052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
drehte er sich um, tastete über die raue Tischplatte
und fühlte die klebrige Masse des Blutes, die noch vom Kopf Yvettes stammte.
»Ich habe dich erwartet, Marcel. Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte
eine eiskalte Stimme in der Finsternis. Eine schattengleiche Gestalt bahnte
sich einen Weg durch den Nebel, der mit einem Mal sein Blickfeld begrenzte.
Die Welt um Marcel Blumon nahm ein eigenartiges Aussehen an. Grau- und
Grüntöne überwogen und überzogen die feuchten, kalten Wände und die menschliche
Gestalt, die ihm auf Tuchfühlung gegenüberstand.
Blumon fand nicht mehr die Kraft, die 38er in Anschlag zu bringen. Sie
wurde zu einem Zentnergewicht in seinen Fingern. Kraftlos entglitt sie ihm,
fiel zu Boden und verfehlte den abgetrennten Kopf Yvettes nur um Haaresbreite.
»Nicht nur Leichenraub ...«, entrann es den Lippen, »auch Mörder ... Sie
sind wahnsinnig, Sarde!«
Der Angesprochene lachte rau. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß er
seine Rechte nach vorn und drückte Marcel Blumon einfach zur Seite. Der
Nachrichtenagent ging in die Knie und kippte langsam vornüber.
Aus der Wunde zwischen seinen Schulterblättern sickerte unaufhaltsam Blut.
»Alles erfüllt einen tiefen Sinn, Marcel«, kam es hart über die Lippen des
unheimlichen Mannes, der sich breitbeinig vor den Sterbenden stellte und auf
ihn herabblickte wie ein Jäger auf das verendete Wild.
»Es gibt Dinge, die du mit deinem Spatzengehirn niemals begreifen wirst,
die du niemals begriffen hättest. Deshalb ist es gut, wenn es jetzt für dich zu
Ende geht.«
Marcel Blumon hörte die spöttische, gnadenlose Stimme. Es war zu spät, um
zu bereuen. Er war in eine geschickt gestellte Falle gelaufen. Yvette hatte ihn
nicht mehr warnen können.
Ein Hustenkrampf schüttelte seinen Körper. Marcel Blumons Atem wurde
schwächer. Aus seinem linken Mundwinkel lief ein dünner Blutfaden. Er war
gekommen, um ein Geheimnis zu klären. Er hatte einen furchtbaren Verdacht, doch
er war meilenweit von der Wahrheit entfernt. Sein Kopf fiel auf die Seite,
seine Augen brachen.
Er sah nicht, dass sich hinter Sarde eine Tür öffnete, die zu dem düsteren,
verdreckten Hinterhof führte.
Direkt vor dem Eingang stand ein dunkelgrauer Peugeot, aus dem der
gehorsame und stupide, rauschgiftsüchtige Paul den reglosen Körper von Michele
Claudette brachte. Schlaff lag sie in seinen Armen. Er schleppte sie auf die
Liege, die unmittelbar hinter dem schweren Vorhang stand und legte sie darauf.
Ehe Sarde etwas sagen konnte, erscholl von der Haupttür her ein bekanntes
Klopfzeichen.
Sarde wandte kurz den Kopf. »Einen Moment, bitte!«, rief er.
Er gab Paul das Zeichen, den Peugeot in die Garage zu fahren und die Tür
zum Hof wieder fest zu verschließen. Dann ging er durch den ehemaligen
Weinkeller und öffnet die Tür.
Eine junge Frau von etwa achtundzwanzig Jahren stand vor ihm.
Es war Blanche.
Sie war aufgeregt, als sie die Tür hinter sich schloss.
Sarde starrte sie an.
»Was ist?«, fragte er leise. Die Nähe der Frau irritierte ihn. Mit einer
linkischen Bewegung fuhr er mit seiner Rechten über ihre Wange. Sie drückte
seine Hand zurück und wies die Zärtlichkeit ab.
» Schau her !« Sie hielt ihm beide
Hände ausgestreckt vor die Augen. » Schau
dir das an !« Er schluckte. »Die Wirkung – sie ist nicht so durchschlagend,
wie wir erwartet haben«, bemerkte er kleinlaut, während er sie aufmerksam
musterte.
Die Frau sah zwar im Gesicht aus wie eine Achtundzwanzigjährige – aber ihre
Hände bewiesen, wie alt sie wirklich war: siebzig !
Sie waren runzlig und spröde, voller Adern. An den Gelenken zeigten sich
winzige Gichtknötchen.
Seit Wochen experimentierte er aufgrund der Unterlagen, die Blanche aus dem
Haus Dr. Henry Fonds in Alness gerettet hatte. Er, Dr. Sarde – wie er sich
jetzt nannte – hieß zu diesem Zeitpunkt noch Clay Morron . Es war ihm gelungen, aus den Flammen des Hauses von
Professor Sanders, der sich mit einem unheimlichen Experiment beschäftigt
hatte, zu entkommen. Seit seiner Begegnung mit dem Gehirn von Sanders hatte
sich sein Leben von Grund auf verändert. Er hatte die alte Blanche aufgesucht,
dort Unterschlupf gefunden, und gemeinsam waren sie noch in der gleichen Nacht
geflohen, um den unbequemen Fragen der englischen Polizei aus dem Weg zu gehen.
Die Tatsache, dass Blanche ein Haus in Paris besaß, hatte ihnen vieles
erleichtert. Clay Morron, der bekannte Gehirnchirurg, hatte keinen Wert mehr
darauf
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