052 - Die Schlangengrube
diesen Schnauzbart lässt er hier herumschnüffeln. Du gibt ihm das Schmuckstück sofort zurück, Lucia!«
Lucia schüttelte den Kopf.
»Was, du willst mir nicht gehorchen? Du hast schon lange keine Tracht Prügel mehr bekommen. Dafür bist du noch nicht zu alt, du Göre.«
Louretta keifte im Romanidialekt. Dorian verstand die Worte nicht, aber der Sinn war ihm klar.
Die anderen Sippenmitglieder und Angehörigen der Schau beobachteten die Szene. Einige wenige waren peinlich berührt, andere schadenfroh und weitere ganz einfach an der Abwechslung interessiert.
Als die fette Louretta Lucia packen wollte, schnellte der Kopf der Buschmeisterschlange unter den Ringen hervor und zischte sie an. Louretta fuhr zurück. Sie hatte die größte Angst vor den Schlangen ihrer Tochter und kreischte gellend auf.
Raffael riss die Tür auf und schaute herein.
»Tod und Teufel, was ist denn das für ein Zirkus? Was ist jetzt schon wieder los, Louretta?«
»Sieh, das hat er deiner Tochter geschenkt! Ich mag das Ding überhaupt nicht ansehen. Der Kerl wird sie zur Hure machen, und bald hat sie auch ein uneheliches Kind im Bauch. Als ob der Ärger mit Ramona und Natalie nicht genug wäre!«
»Deine Zanksucht geht wieder einmal mit dir durch. Du weißt genau, dass Lucia nicht so ist.« Er betrachtete die Gemme, wusste, dass sie zur Dämonenbekämpfung diente, und musterte Dorian. »Lass sie diese Gemme nur behalten!«, sagte er. »Wenn sie ihr gefällt und Mr. Hunter sie entbehren kann …«
»Sonst hätte ich sie nicht hergegeben«, sagte Dorian.
Er sah zu, dass er aus dem Wohnwagen kam. Lucia folgte ihm. Drinnen hörten sie Lourettas keifendes Organ und Raffaels Gebrüll. Zudem begannen noch ein paar Kinder zu plärren und Hunde zu bellen. Es war ein Höllenspektakel.
Dorian fragte sich, ob der Grund für Lourettas heftige Reaktion wirklich nur in ihrer zänkischen Natur zu suchen war.
Zuletzt gingen Dorian und Lucia ins Schauzelt, wo ein paar Mitglieder der Amalfi-Schau für die Nachmittagsvorstellung probten. Der Muskelmann Herkules hantierte stumpfsinnig mit seinen Gewichten herum. Lucia zeigte jedem die gnostische Gemme. Keiner reagierte irgendwie außergewöhnlich.
Dorian sah jetzt zum ersten Mal auch Ramona, Hervio Mastos Frau. Sie war eine bildhübsche Blondine, sah blutjung und sehr reizvoll aus und passte nicht zu den meist dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Zigeunern. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, wie zu einem Kuss. Ein Blick in ihre blauen Augen zeigte Dorian, dass sie ein Luder war.
Sie lächelte ihn an und fuhr mit der Zungenspitze über die roten Lippen. »So, der kleinen Lucia haben Sie dieses Schmuckstück geschenkt, Mr. Hunter? Ich hätte auch Verwendung dafür gehabt.«
Und du hättest dich erkenntlich gezeigt , dachte Dorian. Er fragte sich, wie eine Frau wie Ramona den Knochenmann und Verrenkungskünstler Hervio Masto hatte heiraten können, der alles andere als eine Schönheit war und auch in seiner besten Zeit kaum mehr als einen Zentner wog.
Der Knochenmann lag in seinem Glaskasten, auf knappe vierundvierzig Pfund abgemagert. Über seinen Backenknochen straffte sich die Haut.
Schau mal, was ich da habe, Hervio! , übermittelte ihm Lucia in der Zeichensprache und zeigte ihm die gnostische Gemme.
Der Knochenmann begann einen wahren Veitstanz. Seine dürren Glieder zuckten und bebten; er verrenkte sich unbeschreiblich. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Röchelnd streckte er die wie einen Korkenzieher gewundene Zunge hervor.
»Er kann es vor Hunger nicht mehr aushalten. Es sind die üblichen Anzeichen«, sagte die schöne Ramona gefühllos. »Die ganze Zeit war er schon so apathisch.«
Raffael wurde geholt. Er war nach dem Streit mit seinem Weib finsterer Laune. Raffael klopfte ans Glas. Hervio Masto hielt in seinen Zuckungen inne. Die Augen, von denen nur noch das Weiße zu sehen war, rollten herum, die Pupillen fixierten Raffael. Dorian glaubte eine glühende Gier in den Augen zu erkennen. Schaum stand in den Mundwinkeln des Knochenmannes.
Eine widerliche Kreatur , dachte Dorian. Er stellte sich dieses abscheuliche Knochengeschöpf mit Ramona im Bett vor, und es überlief ihn kalt.
»Kannst du es nicht mehr bis zum Wochenende aushalten?«, rief Raffael. »Du solltest am Sonntag in der Nachmittagsvorstellung zu essen beginnen. Es wäre ein neuer Hungerrekord gewesen. So war es ausgemacht.«
Hervio Masto schüttelte den Kopf.
»Ja, ja«, seufzte Amalfi resigniert. »Essen muss der
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