0527 - Der Grausame
rechtes Ohr gegen das Türblatt.
Einige Sekunden, die Arlette sehr lang vorkamen, lauschte er, atmete so schwach wie möglich durch die Nase und bekam den starren Blick, den Arlette an ihm kannte. Immer wenn Marcel so schaute, stand er dicht vor einer Entdeckung.
»Na…?«
Er richtete sich auf. Mit kaum zu verstehender Stimme schickte er Arlette die Antwort entgegen. »Ja, da ist etwas. Da tut sich was auf dem Gang. Schritte und Stimmen.«
Die junge Frau war gespannt. »Hast du sie denn unterscheiden können?«
Er nickte. »Zum einen habe ich diesen van Akkeren gehört, aber die Stimme des zweiten Mannes kenne ich nicht.«
Arlette kam lautlos näher. »Was… was sprachen sie denn? Wovon redeten sie?«
»Keine Ahnung. Das konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Vielleicht hat sich van Akkeren wieder ein Opfer geholt.«
»Meinst du?«
»Wäre doch möglich.«
Arlette holte tief Luft. »Meine Güte, mach mich nicht wahnsinnig. Wenn das jemand wäre, der gekommen ist, um uns zu befreien…«
»Wer sollte das schon tun?«
»Frank Didier!«
Marcel winkte ab. »Glaub das doch nicht. Nein, Frank weiß von nichts. Er wird versuchen, von Cerbac aus Hilfe für unseren verdammten Wagen zu holen. Das ist auch alles.«
Er bückte sich wieder und legte sein Ohr abermals gegen das dicke Türblatt.
Und wieder vernahm er die Stimmen. Noch immer konnte er nicht hören, was geredet wurde.
Arlette lauschte ebenfalls. Ihr Kopf befand sich dicht vor dem des Mannes. Sie zitterte wie Espenlaub, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt und spürte spitze Fingernägel in das Fleisch ihrer Handballen dringen.
Auch die Farbige, die wirklich gute Ohren hatte, konnte von den Worten nichts verstehen. Was blieb, war eine sehr, sehr schwache Hoffnung.
Dann hörten sie nichts mehr.
Sie starrten sich an. Wegen der geringen Distanz sah jeder die Augen des anderen übergroß.
»Vorbei?« hauchte Arlette.
»Anscheinend – oder…?«
Sie lauschten wieder und vernahmen ein anderes Geräusch. Es war ein Lachen. Sehr teuflisch, auch triumphierend. Vincent van Akkeren hatte es ausgestoßen.
Damit stand für die beiden Gefangenen fest, daß dieser menschliche Teufel wieder einen Sieg davongetragen hatte. Gemeinsam drückten sie sich hoch.
Arlette blieb für wenige Sekunden vor ihrem Schicksalsgefährten stehen, ehe sie nach vorn und damit in seine Arme kippte. Sie preßte ihre Wange gegen die seine. Marcel hörte ihr Weinen, und er fand auch keine tröstenden Worte, weil ihm ebenfalls nach Heulen zumute war. Die andere Seite hatte ihnen wieder bewiesen, wie mächtig sie war.
»Ist schon gut, Mädchen, ist schon gut.« Marcel fühlte sich fast wie ein Vater, der seine Tochter trösten mußte. Er wollte sie wegziehen und auf einen Stuhl drücken, als er aufhorchte.
Schritte näherten sich der Tür. Nicht einmal leise, sondern bewußt hart aufgesetzt.
Vor der Tür verstummten sie.
Eine Weile geschah nichts. Die beiden wußten jedoch, daß sie belauert wurden, dann pochte jemand von außen gegen das Holz.
Obwohl die Echos nicht laut klangen, kamen sie ihnen vor wie Paukenschläge aus dem Jenseits.
Das Pochen verstummte. Es war die Ouvertüre für das Folgende gewesen. »Ihr seid noch da, nicht wahr?« fragte van Akkeren und mußte schallend lachen. »Ich will euch nur sagen, was geschehen ist. Einer meiner Todfeinde drang in das Schloß ein und wollte euch befreien. Jetzt ist er selbst ein Gefangener und steht auf dem Fließband ins Jenseits. So kann es einem ergehen. Wen ich einmal habe, den lasse ich nicht los. Ich werde jetzt gehen und bald wiederkehren. Wenn ich dann klopfe, bin ich bereit, eure Seelen zu holen. Begreift ihr?« Er lachte noch einmal auf und ging davon.
Arlette und Marcel lauschten den immer dünner werdenden Echos der Schritte nach, bis Arlette fragte: »Was meint er damit, wenn er sich unsere Seelen holen will?«
»Ganz einfach, Mädchen. Er wird uns töten und unsere Seelen dem Teufel zuführen.«
»Das… das sagst du so?« stieß sie hervor.
»Weil es den Tatsachen entspricht.«
Arlette ging einen Schritt zurück, bis sie den Stuhl erreicht hatte, auf dem sie sich niederließ. Sie schwiegen sich an, weil beide nichts mehr zu sagen wußten.
An den Wänden leuchteten zwei Lampen. Sie hatten die Form von langen Tropfen und gaben ein weiches Licht ab, das zur Einrichtung des Zimmers paßte.
Marcel atmete schwer, sein Magen war verkrampft. Das Luftholen schmerzte. Er wußte auch nicht mehr, was er
Weitere Kostenlose Bücher