0527 - Der Grausame
preßte die Handfläche auf die Lippen. »Das darf doch nicht wahr sein!«
»Ist es aber. Oder glaubst du, der läuft zum Vergnügen mit einer MPi herum?«
»Was sollen wir tun?«
»Zeit gewinnen.« Er zog Arlette mit sich. In der Nähe befand sich eine Tür. Sie war schmaler als die normalen.
Beide hofften, daß sie nicht verschlossen war.
»Mach schon! Beeil dich!« Arlette stieß ihren Freund an, der Mühe mit der Klinke hatte. Sie ließ sich nur sehr schwer nach unten drücken.
Er schaffte es, zog die Tür auf und schob zunächst Arlette in das Dunkel dahinter. Bevor er ihr folgte, warf er noch einen Blick zurück in den langen Gang.
Auf den ersten Blick sah er leer aus. Das täuschte, denn van Akkeren hatte es schlau angefangen und sich sehr eng an die Wand gedrückt, wo er mit der Düsternis verschmolz.
Ungefähr dort, wo Marcel ihn vermutete, zuckte es bläulich auf.
Gleichzeitig erklang ein hartes Peitschen, das als rasch hintereinander folgende Echos an ihre Ohren rollte.
Mit einem Hechtsprung landete Marcel Wächter in dieser Kammer. Er spürte die Angst, denn noch nie zuvor in seinem Leben hatte jemand auf ihn geschossen.
Auf dem Boden wälzte er sich herum. Seine Partnerin stand als Schatten neben ihm.
»Tür zu!« schrie er.
Arlette warf sie ins Schloß. Keuchend kam Marcel wieder auf die Füße. »Da haben wir Glück gehabt. Der… der Hundesohn hat tatsächlich auf mich geschossen.«
»Glück?« schrie Arlette. Sie war mit ihren Nerven wieder ziemlich down. »Wie kannst du von Glück reden? Das ist nichts… das ist unser Unglück. Der wird kommen und durch die Tür schießen. Wir stecken hier in einem Gefängnis. Im Zimmer hätten wir uns noch auf den Boden werfen können. Das ist eine Abstellkammer, absolut dunkel…«
Was sich allerdings in den nächsten Sekunden änderte, denn Marcel Wächter holte sein Feuerzeug hervor und knipste es an. Die kleine Flamme erhellte einen Teil der Finsternis. Sie schuf einen Lichtfleck, der über die Eingangstür glitt und ein Schattenspiel auf dem kahlen Mauerwerk hinterließ.
»Es gibt keinen zweiten Ausgang!« hauchte Arlette und schüttelte den Kopf.
Marcel Wächter nickte. Er hatte seinen Kopf nur zweimal bewegen können, beim drittenmal wurde er starr.
Beide hörten das Schaben. Es klang an der Wand gegenüber auf.
Denn dort öffnete sich plötzlich eine Geheimtür, als wäre jemand da, der sie von der anderen Seite aufzog.
Arlette preßte sich an ihren Freund, der auch weiterhin sein brennendes Feuerzeug in der Rechten hielt. Es störte ihn nicht, daß die Flammen seine Daumenspitze ansengten, er hatte nur Augen für die rechteckige Öffnung, die immer größer wurde, weil sich ein Teil der Wand nach innen drehte.
Plötzlich stand eine Gestalt in der Öffnung.
Ein Geist!
***
Arlette Omère schrie auf. Das Erscheinen des Geistes hatte sie tief erschreckt. Diese Gestalt durfte es einfach nicht geben. Trotz der Finsternis war sie deutlich zu erkennen, denn ihre Umrisse hellten das Dunkel auf.
Marcel Wächter sagte gar nichts. Ihm kam es so vor, als wären alte Geschichten wahr geworden, die man sich früher in den Landschulheimen und Jugendherbergen erzählt hatte.
Da war des Nachts von der weißen Frau gesprochen worden oder vom Gespenst ohne Kopf.
Und jetzt stand so eine Erscheinung vor ihnen. Ein leibhaftiger Geist, eine Gestalt, die feinstofflich und gleichzeitig durchsichtig war und in ihrem echten Leben eine Frau gewesen sein mußte.
Arlette wischte über ihre Augen. Sie wollte etwas sagen, aber dieser plötzliche Schock hatte sie sprachlos gemacht.
Der Geist »redete« auch nicht. Dafür vernahmen sie von draußen die Geräusche. Van Akkeren jagte dort über den Gang. Er schrie und tobte. Einmal drückte er sogar ab, bevor er lachte und erklärte, daß er die beiden killen würde.
»Kommt… kommt zu mir …« Sie vernahmen die gezischelten Worte des weiblichen Geistes. »Nur ich kann euch noch vor dem Tod retten. Kommt zu mir, schnell …«
Sie schauten sich an. »Sollen wir?« fragte Arlette.
»Bleibt uns etwas anderes übrig?«
»Wohl kaum.«
»Dann los!«
Der Geist stand noch immer wie mit dünnen Pinselstrichen gezeichnet innerhalb des Rechtecks. Er bewegte sich nicht einmal zur Seite, als die beiden auf ihn zuliefen.
Um sich an der Gestalt vorbeidrücken zu können, dazu war die Öffnung zu schmal. Also lief das Paar direkt auf das Gespenst zu.
Zuerst Arlette. Sie spürte den kühlen, fast eisigen Hauch ebenso
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