0529 - Der Dschinn
durchaus real«, murmelte sie. »Zamorra, ich… ich habe das Blut gesehen. Rhetts Blut, und meines. Wir sind tot. In einer anderen Welt sind wir tot. Wie ist es möglich, daß diese beiden Welten sich berühren, sich miteinander vermischen können? Es war ein furchtbares Gefühl, vor dem zerstörten Wagen zu stehen. Ich wußte , daß Rhett und ich tot sind, Zamorra. Ich wußte es einfach! Und es war entsetzlich! Ich wäre fast wirklich gestorben!«
»Vielleicht hättest du es dir nicht anschauen sollen.«
»Doch. Es mußte sein. Es ist eine Erfahrung… so schaurig sie auch war, sie hat mir über das hinweggeholfen, was geschehen ist. Als ich zum Château hinauf fuhr, hatte ich furchtbare Angst vorm Fahren an sich. Ich sah ständig andere Autos, die von allen Seiten auf mich zu jagten, und ich war heilfroh, als wir endlich oben waren. Vielleicht würde ich sonst nie wieder ein Lenkrad anfassen können, ohne diese Angstzustände zu bekommen. Aber jetzt habe ich das Wrack gesehen. Jetzt kann ich mit meinen Empfindungen und mit meiner Erinnerung umgehen. Verstehst du das?«
»Vielleicht«, sagte er.
»Was wird jetzt geschehen? Was kommt als nächstes?«
Zamorra zuckte mit den Schultern. Er war weder Hellseher noch Prophet, und Merlins Stern hatte auf dem Polizeihof auch keinen telepathischen Kommentar von sich gegeben.
Er fragte sich, warum der Dschinn dieses seltsame Versteckspiel trieb. Welchen Grund konnte er dafür haben?
***
Der Dschinn hatte die Gelegenheit genutzt, als er den Unfall sah. Gerade noch rechtzeitig hatte er eingreifen und die Realität mit der IMAGINÄREN WELT verknüpfen können. Wäre er auch nur um eine oder zwei Sekunden später eingetroffen, hätte er nichts mehr retten können. So aber war er in der Lage, die Ereignisse in einem lokalen Bereich noch gegeneinander auszutauschen, ehe sie vom Strom der Zeit endgültig fixiert werden konnten.
Solche Dinge, vor allem die später nötig werdenden Nacharbeiten, kosteten ihn sehr viel Kraft.
Aber was tut man nicht alles, um seinen Arbeitsplatz zu sichern? Der Ärger bestand darin, daß bei Korrekturen dieser Art immer wieder Kleinigkeiten anfielen, die später ebenfalls manipuliert werden mußten, um ein vernünftiges Gesamtbild zu ergeben.
Aber dennoch: er fühlte sich seltsamerweise glücklich, trotz seiner Erschöpfung. Glücklich darüber, daß er zwei… nein, sogar drei Geschöpfen das Leben hatte retten können.
In der Realität lebten Patricia, Rhett und der Ferraripilot.
In der IMAGINÄREN WELT, in die das Unfall-Szenario versetzt worden war, waren sie dagegen jetzt tot, und nicht Patricia und Zamorra waren in Zamorras BMW nach Montrond gefahren, sondern Nicole und Zamorra in Nicoles Cadillac.
Aber die IMAGINÄRE WELT hatte eine zu geringe Existenzwahrscheinlichkeit. Sie war ja nicht wirklich real.
Deshalb wollte der Dschinn nie wieder ausschließlich auf sie angewiesen sein.
Und deshalb verblieben die Betroffenen im Zeitstrom der Wirklichkeit, ohne in einem entropischen Chaos allmählich zu zerfallen.
***
Butler William hatte den kleinen Sir Rhett für eine Weile alleinlassen können. Der Junge war inzwischen durchaus in der Lage, für kurze Zeit unbeaufsichtigt zu bleiben. William war darüber nicht unfroh. Mit dem alten Sir Bryont hatte er sich leicht zusammenraufen können. Der besaß den scharfen Verstand eines über 200jährigen und die erträglichen, weil verständlichen Launen eines Erwachsenen, und nicht einmal in seinen letzten Tagen hatte er Ansätze von Senilität gezeigt.
Aber sein Junior, in den Sir Bryonts Geist im Augenblick der Erbfolge geschlüpft war, war nun mal nichts anderes als ein Kind, jetzt gerade mal ein wenig älter als ein Jahr. [6]
Mit dessen Launen kam William nicht mehr sonderlich gut zurecht. Er hatte selbst nie eine Familie gegründet, und er fühlte sich inzwischen schon längst zu alt, um sich wirklich noch an sehr kleine Kinder gewöhnen zu können. Er fragte sich manchmal, ob Sir Bryont sich an sich selbst hätte gewöhnen können.
So widmete William sich zwischendurch erleichtert einigen Routineaufgaben, wie dem Öffnen und Schließen von Fenstern. Er schaute auch ins »Zauberzimmer« hinein, allerdings weniger, um dort etwas aufzuräumen. Da ließ er grundsätzlich die Finger von. Für das »Zauberzimmer« war Raffael Bois zuständig - wenn überhaupt jemand außer dem Professor selbst. Woher sollte schließlich ein Normalsterblicher wissen, ob nicht gerade ein Experiment stattfand,
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