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053 - Der steinerne Dämon

053 - Der steinerne Dämon

Titel: 053 - Der steinerne Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John E. Muller
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durchzuschneiden. Nacheinander durchtrennte der langhaarige Fremde die Drähte, aber selbst als der letzte Draht durchschnitten war, konnte Bollinger sich noch immer nicht bewegen. Sein breitschultriger und starker Retter hob ihn hoch, als ob er ein Kind wäre.
    „Das war schon ein Stück Arbeit“, flüsterte der Doktor.
    „Old Midnight kennt sich aus.“
    „Midnight?“
    „Meine Freunde nennen mich Midnight Jones.“
    Der Fremde stellte Bollinger aufdie Füße, und nur an die Felswand gelehnt war der Direktor von Tregorran Grange fähig, zu stehen.
    „Das ist ein ziemlich unüblicher Name“, keuchte er.
    Der Fremde lachte. „Ich bin ein ungewöhnlicher Mann.“
    „Ich kann Ihnen gar nicht genug danken. Es wäre fast eine Beleidigung, es auch nurzu versuchen. Worte und Gesten würden nicht genügen. Ich habe seit heute Morgen hier gelegen.“
    „Irgend jemand kann Sie entschieden nicht leiden“, sagte Jones weise.
    Bollinger lachte trocken. „Das können Sie laut sagen.“
    „Sie brauchen jetzt etwas Bewegung, damit Ihr Blut wieder richtig zirkuliert. Ich gehe in dieselbe Richtung. Kommen Sie!“
    Den Arm um die Schultern des Fremden gelegt, taumelte Bollinger die Gleise entlang.
     

     
    Der Fremde nahm seine Gitarre, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß Bollinger sich ohne fremde Hilfe an seinen Schultern festhalten konnte, fingen seine langen Finger an, die Saiten zu zupfen.
    Bollinger war selbst kein schlechter Musiker, doch dieser Mann spielte nicht nur gut, er war ein Meister in seinem Fach.
    Dabei ließ er die Laterne am kleinen Finger seiner linken Hand baumeln; der Daumen derselben Hand hielt den Hals der Gitarre, und die drei anderen Finger bewegten sich mühelos über die Saiten.
    Die Laterne war weder schwer noch unhandlich, aber sie hätte jeden anderen behindert. Jones trug sie, als ob sie das Gewicht eines Spinnengewebes hätte.
    „Solche Musik habe ich noch nie gehört“, sagte Bollinger, atemlos vor Bewunderung. Schmerzen und Kälte waren vergessen.
    „Ich freue mich, daß sie Ihnen gefällt.“
    Jones fuhr mit seinem Lied fort.
    „Mitten in der Nacht kam ein kleines, wanderndes Licht.
    Und der Mann, der sterben sollte, sah den Schimmer.
    Kein Zug zermalmte seine Knochen, denn Midnight Jones stand da, wie ein Minnesänger aus einem Traum.“
    Es war Bollinger klar, daß Jones die Worte erfand, trotzdem paßten sie genau zu der genialen Musik. Es war die Ballade seiner eigenen Errettung. Sie war traurig und gleichzeitig unsagbar komisch. Am liebsten hätte er geweint und gelacht.
    „Was hatten Sie hier unten eigentlich vor?“ fragte Bollinger, als die Ballade endete.
    „Was denken Sie?“
    „Keine Ahnung.“
    „Die Nacht kommt. Man muß sich doch einen Schlafplatz suchen.“
    „Wer sind Sie – oder vielmehr was sind Sie?“
    „Ich sagte Ihnen doch, wer ich bin. Midnight Jones.“
    „Man hat Sie aber nicht so getauft.“
    „Wenn es Ihnen darum geht – ich wurde nie auf irgendeinen Namen getauft.“
    „Sind Sie Zigeuner?“
    „Ich bin ein Wanderer. Aber nennen Sie mich ruhig Zigeuner. Der Name ist so gut wie jeder andere.“
    „Sie weichen mir aus. Sind Sie auf der Flucht?“
    „Das würde ich nicht direkt sagen.“
    Dieser Akzent, dachte Bollinger, ließ sich nicht einordnen. Woher kam dieser Mann? Wie alt war er? Neugier erfüllte den Arzt und drängte den Schmerz genauso zurück, wie es die Musik vorher getan hatte.
    „Ich versuche mir über Ihren Akzent klarzuwerden“, sagte er. „Woher stammen Sie?“
    „Fünf Meilen die Straße hinunter.“
    „Wollen Sie damit sagen, daß Sie ein Mann aus Cornwall sind?“
    „Ich komme ebenso aus Cornwall, wie von anderswo her. Ich bin nicht hier geboren, obgleich ich schon hier war, als noch keiner der Leute hier lebte.“
    Midnight Jones begann ein anderes Lied.
    „Ich wurde vor zehntausend Jahren geboren.
    Es gibt nichts auf der Welt, was ich nicht weiß.
    Ich kannte Peter und Paul und Moses,
    Und ich streite mich mit jedem, der das nicht glaubt.
    Ich sah Adam und Eva im Garten Eden.
    Ich war dabei, als sie vertrieben wurden.
    Und ich sah die Schlange hinter dem Busch lauern.
    Und ich schwöre, daß ich der bin, der den Apfel bekam.“
    Er lachte. „Ein verrücktes Lied, nicht wahr?“
    Bollinger biß sich nachdenklich auf die Lippen. Entweder war der Mann verrückt – sympathisch verrückt –, oder es steckte etwas so Unheimliches dahinter, daß der Direktor von Tregorran Grange lieber nicht weiterfragen

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