0536 - Mambo-Hölle
zurückzugeben.
Gräber und Steine, die von den meisten Menschen längst vergessen worden waren. Auf diesen Friedhof ging niemand freiwillig. Die Menschen im Süden, besonders die Farbigen, frönten dem Aberglauben. Sie waren es auch, die als erste gespürt hatten, daß auf dem Areal etwas nicht stimmte. Aus diesem Grunde war der Friedhof auch in Vergessenheit geraten.
Tagsüber war es sehr schwül gewesen. Jetzt, wo der Abend den Tag ablöste, wehte plötzlich Wind über das Gelände. Kein Sturm, nur ein plötzliches Aufbrausen, das sich in den Bäumen fing. Äste und Blätter schienen der Gefesselten zuzuwinken.
Auch gegen Evangelines Gesicht wehte der Wind. Er brachte keine Kühlung mit, dazu war es einfach am Tage zu warm gewesen, aber er zerwühlte ihre Frisur.
Ein ungewöhnliches Gefühl überkam sie dabei. Der Wind stieg aus den Gräbern und brachte die Stimmen der Geister mit.
Sie meldeten sich in ihrem Gehirn. Plötzlich waren dort Tausende von Stimmen vorhanden, die durcheinander sprachen, als wollten sie von ihrem erlebten Schicksal berichten.
Die Kreolin fühlte sich nicht als Heldin, es kam auch keine Angst in ihr hoch. Sie genoß den warmen Wind, der mit zahlreichen Fingerspitzen ihre Haut streichelte.
Manchmal zuckten ihre Lippen und verzogen sich zu einem Lächeln, als würde sie jemand erwarten.
Das Gras verneigte sich vor ihr, richtete sich wieder auf. Buschwerk zitterte, nahm eine andere Gestalt an. Es sah so aus, als würde es Befehlen gehorchen, die nur ihm galten.
Und noch immer tobten die Stimmen in ihrem Kopf. Manchmal klagend, wehleidend, dann wieder jubelnd, als hätten die Geister der Toten ihr etwas Besonderes mitzuteilen.
Es war einfach alles anders geworden, und es änderte sich noch mehr für das Mädchen.
Urplötzlich waren die Stimmen in ihrem Kopf verstummt – bis auf eine. Sie flüsterte, wisperte, sie sprach Worte, die Evangeline noch nicht verstehen konnte, aber sie war vorhanden und machte auf sie einen positiven Eindruck.
Die Kreolin hatte den Kopf zurückgedrückt und berührte das Holz des kantigen Pfahls, Sie konzentrierte sich auf diese eine Stimme, weil sie wußte, daß diese ihr eine Botschaft mitbrachte.
Evangeline hatte sich nicht getäuscht. Die Stimme brachte etwas mit. Sie klang sanft und gleichzeitig überzeugend.
»Keine Sorge, ich bin bei dir…«
Evangelines Augen weiteten sich. Plötzlich wußte sie, wer da zu ihr gesprochen hatte, obwohl sie die Person noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
Sie hatte auf den gleichen Namen gehört wie sie.
Ihre Mutter!
***
Die Stimme sprang so deutlich, als wäre die Person nicht tot und würde neben ihr stehen. Evangeline gab keine Antwort. Sie mußte die Tatsache erst einmal überwinden. Dann formten ihre Lippen eine Frage.
»Mutter?«
»Ich bin es…«
»Du… du bist tot …«
Sie hörte das Lachen. Es klang weder häßlich noch freudig, einfach nur neutral.
»Tot, sagst du, mein Kind? Vielleicht bin ich tot oder bin das, was man im allgemeinen als tot bezeichnet. Aber du irrst dich, Tote gehören weiterhin zur Gemeinschaft, auch wenn ihre Körper längst verwest sind. Der Geist aber bleibt, er kann nicht vergehen, wobei es keine Rolle spielt, wer der Verstorbene gewesen ist, nur gibt es da große Unterschiede. Die meisten Menschen können, wenn sie einmal den Weg der Verwesung gegangen sind, sich nicht mehr zurückmelden. Sie besitzen längst nicht die Kraft, weil sie kein außergewöhnliches Leben geführt und sich mit Dingen beschäftigt haben, vor denen andere Furcht haben. Mein Leben verlief in ungewöhnlichen Bahnen. Ich bin schon früh mit Dingen in Berührung, gekommen, die für andere Menschen Zauberei waren…«
»Mambo?«
»Richtig, meine Tochter, es war der Mambo-Zauber. Er gab mir die Kraft und auch das Wissen, den Tod nicht fürchten zu müssen, denn die alten Rituale beschäftigen sich mit dem Leben ebenso wie mit dem Tod und dessen Überwindung.«
Evangeline nickte, obwohl es ihr Schmerzen bereitete, weil sich die Halsmuskeln ebenfalls verspannt hatten. »Ja, ich wußte, daß du etwas Besonderes gewesen bist. Ich habe es gefühlt. Du… du warst eine Mambo-Priesterin, nicht wahr?«
»Ja, eine sehr mächtige…«
»Aber du bist so früh gestorben!«
»Das mußte sein, denn ich wußte genau, daß ich weiterleben würde. Deshalb starb ich gern, und mein Wissen hat mich nicht auf einen Irrweg geleitet. Ich bin gestorben und wurde gleichzeitig wiedergeboren. Ich weiß es noch
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