054 - Die Gespenster-Dschunke von Shanghai
Außerdem machten die Gäste an
Bord durch ihre Musik, ihr Lachen und ihre Stimmen selbst soviel Lärm, daß die
Geräusche von außen gar nicht durch die Bootswände drangen. May tauchte wie ein
Schatten neben ihrem Verlobten auf. »Jetzt müßte es eigentlich so weit sein«,
flüsterte sie. »Wir sind am vereinbarten Platz… Wenn wir zu lange
hier herumkurven, schöpft der eine oder andere möglicherweise Verdacht, und
dann ist der Spaß nur halb soviel wert.«
»Das
glaube ich kaum«, schüttelte Lee den Kopf und legte den Arm um seine hübsche
Braut. »Unsere Gäste sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß es ihnen
nicht mal auffiele, wenn sie ständig im Kreis gefahren würden. Außerdem ist’s
so weit… die Dschunke ist da. Von rechts kommt sie direkt auf uns zu.«
Da
sah auch May sie. Der dunkle Rumpf hob sich kaum von der Wasseroberfläche ab.
An Bord der Gespenster-Dschunke, die eine Nachbildung aus der chinesischen
Legende war, befanden sich hochwertige Computer und Instrumente, die es der
Besatzung ermöglichten, sich auch in tiefster Dunkelheit zurechtzufinden und
noch für einen sicheren Ablauf des Unternehmens zu sorgen. Auch während der
Aktionen, die präzise und schnell durchgeführt wurden, war für die Sicherheit
der Überfallenen gesorgt. Zehn Froschmänner würden in dem Moment ins
Wasser springen, wenn die Piraten die Barkasse kaperten. Die Barkasse
drehte leicht ab und mit der Richtungsänderung wurde auch das Brummen der
Dieselmotoren hörbar, die die Dschunke schnell heranschoben. Plötzlich stieg in
der Dunkelheit am Mittelmast ein Segel hoch. Wind blähte das gewaltige Tuch,
das blutrot in der Finsternis auf dem Wasser zu leuchten begann, auf dem sich der
goldfarbene Drache mit dem kahlen Knochenschädel abzeichnete. Er glühte wie aus
innerem Licht. Drüben in den Hausbooten entstand Bewegung. Sie glitten heran.
Auf dem Bug der Dschunke mit dem gespenstisch glühenden Abbild des Drachens
zeigten sich ebenfalls Gestalten. Furchteinflößende Menschen , die diese
Bezeichnung kaum mehr verdienten. Nur ihre Körper waren noch menschlich. Die
Köpfe waren kahl und fahl, unheimliche Masken, bei deren Anblick einem das Blut
in den Adern gefror.
»Ich
habe bisher nur davon gehört, sie noch nie selbst gesehen«, flüsterte Lee
unwillkürlich, als wolle er vermeiden, daß jemand anders ihn hörte. »Aber so
beeindruckend habe ich sie mir nicht vorgestellt…«
»Ich
auch nicht«, mußte May ihm bestätigen. »Mir läuft’s eiskalt über den Rücken…
Vielleicht hätten wir doch etwas durchsickern lassen sollen. So unvorbereitet,
ich weiß nicht… Wenn einer schwache Nerven hat, kippt er um.«
»Es
wird keiner umkippen. Los jetzt«, sagte er mit zunehmender Erregung. »Jetzt
bist du dran! Schrei los!« Er versetzte ihr einen sanften Stoß zwischen die
Rippen, und May warf sich herum, taumelte über das Deck der Barkasse und schrie
gellend. »Sie kommen… Versteckt euch! Die Piraten!« Da flammten
Scheinwerfer auf, Schüsse waren zu hören, und die Gestalten, die am Bug
zusammengedrängt standen, schwangen sich an Seilen auf die Barkasse und
schwenkten Äxte und Schwerter. Sie waren aus Weichplastik, um niemand zu
verletzen, aber sie sahen furchteinflößend aus. Schreie waren zu hören. Sie
kamen aus den hohlen Masken der Piraten und aus den Räumen der Barkasse, die
die Flut der Eindringlinge förmlich überschwemmte. Lee stand auf Deck, preßte
sich an die Innenwand des Bootes und konnte von seinem Standort aus den
vereinbarten Überfall gut beobachten. Von der ankernden Dschunke und den
Hausbooten aus konnte man die Aktionen auf dem gemieteten Ausflugsschiff
ebenfalls gut verfolgen. Die Kameramänner hatten alle Hände voll zu tun. Man
hörte das Geräusch aufspritzenden Wassers. In schwarzen Gummianzügen steckende
Männer sprangen von der Gespenster-Dschunke um den Raum rings um die
Barkasse abzusichern für den Fall, daß doch mal einer der Überraschten vor
Aufregung ins Wasser fiel. Obwohl man solche Dinge nach Möglichkeit vermied.
Meistens wirkte der Schrecken nur in den ersten Sekunden nach dem Überfall.
Dann merkten die Beteiligten in der Regel, daß sie aufs Eis geführt worden
waren und wehrten sich nur noch sporadisch. Sie ließen sich abführen, von den
kräftigen Männern mit den Drachenmasken hinüberschleppen auf die Dschunke mit
dem auffälligen gespenstischen Segel der Drachenmänner. Der Drachen mit dem Totenkopf symbolisierte eine Sekte von Zauberern
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