054 - Die Gespenster-Dschunke von Shanghai
mußte
lächeln. Sie kannte Chen vom Hörensagen. Man erzählte sich, daß er eine
eigentümliche Art von Humor besaß. Nun lernte sie ihn kennen.
»Ich
brauche Ihre Hilfe, Chen.«
»Bin
ich wirklich derjenige, der dir helfen kann?«
»Du
bist ein alter Mann. Man sagt, du seiest klug und weise, und es gäbe keine
Zeile in den wichtigen Büchern des chinesischen Volkes, die du nicht gelesen
hättest.«
»Das
ist leicht untertrieben«, korrigierte der Einsiedler sie. »Nicht nur die Bücher
dieses Volkes, meine Tochter… Du hast die Werke und Mythen ganz Asiens
vergessen.«
»Oh,
das tut mir leid.« Sie reichte dem alten Mann, der alt und doch ewig jung
wirkte und den Eindruck eines weisen Magiers auf sie machte, ein in
Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen. Ihr Gastgeschenk enthielt kandierte und
getrocknete Früchte, einige Leckerbissen, die Chen nicht selbst herstellen
konnte. Sie hatte sich sagen lassen, daß er solche Gaumenfreuden liebte und
außerdem gern ein Gläschen Reiswein trank. Auch davon brachte sie eine Flasche
mit. Chen bedankte sich mit einer Verbeugung und bat X-GIRL-G in sein Haus.
Innen
war es wirklich das, was die Bezeichnung Haus verdiente. Vom Boden bis
zur Decke gab es Wandregale. Sie bogen sich unter der Last der Bücher. Wo kein
Regal hing, waren Bilder und Fotografien an den Wänden befestigt. Sie zeigten
Chen als jungen Mann. Er war oft auf Reisen gewesen, ehe er sich ganz in die
Einsamkeit zurückzog. Ein Kind von Traurigkeit schien er aber nie gewesen zu
sein. Viele Fotos zeigten ausgesprochen gutaussehende Frauen, jüngere und
ältere. Manche waren nackt. »Erinnerungen an ein anderes Leben«, warf er
beiläufig ein. Su Hangs forschender Blick war ihm nicht entgangen. Außerdem
konnte er sich denken, was in den Köpfen seiner seltenen Besucher vorging, wenn
sie seine Behausung betraten. Es gab nur einige kleinere Möbelstücke. Erlesene
Einzelstücke. Viele mit Lack- und Einlegearbeiten. Alles war sehr sauber und
ordentlich. Selbst die Bücher, die auf dem Tisch oder dem Diwan lagen, zog Su
Hang in diese Ordnung mit ein. Teppiche auf dem Boden verdeckten die alten
Dielen. Ratsuchende und Besucher aus aller Welt, die Chen in seinem langen
Leben schon empfangen hatte, hatten ihm diese Teppiche als Geschenke
mitgebracht.
Su
ließ sich auf ein weiches, bequemes Sitzkissen nieder und trug ihr Anliegen
vor. Mit kerzengerade aufgerichtetem Oberkörper saß Chen ihr gegenüber. Sein
Gesicht war reglos wie eine Maske. Die dunklen Augen besaßen noch das Feuer der
Jugend. Es hieß, daß Chen schon über hundert Jahre alt sein sollte. Sie wollte
es einfach nicht glauben. »Es gibt unzählige chinesische Mythen«, reagierte
Chen sofort, kaum daß sie geendet hatte. Vor ihnen auf dem niedrigen Tisch
standen zwei kleine Tassen mit grünem Tee. »Die Legende von der
Gespenster-Dschunke hielt man lange Zeit für ein Märchen. Ich habe das nie
getan. Was ich seit geraumer Zeit beobachte, gibt zu der Befürchtung Anlaß, daß
der Fluch, unter dem die Drachenmänner stehen, noch immer wirksam ist,
ja, daß er sogar neu auflebt. Das bedeutet, daß jemand bewußt oder unbewußt
etwas an Dingen dreht, von denen er lieber die Finger lassen sollte.«
»Was
hat es mit dem Fluch auf sich?«
»Die
Drachenmänner waren einst eine einflußreiche Geheimgesellschaft. Sie hatten
keine Ehrfurcht vor dem Leben und kannten nur die eigene Macht. Sie wurden in
offenem, fairem Kampf besiegt und ihre Götzenstatue, die sie angebetet hatten
und durch die sie Macht erhielten, in einer unzugänglichen Felsenhöhle auf
einer winzigen, unbewohnten Insel vor Shanghai verstaut. Im Mythos heißt es,
daß die Drachenmänner so lange in der Welt der Geister gebannt und ungefährlich
sein werden, so lange niemand den Drachengötzen anbetet und keiner die
sogenannte Lebensstatue besitzt.«
»Die Lebensstatue ? Was ist das?«
»Das
verkleinerte Original des Drachengötzen. Wer sie besitzt, ist der Priester und
kann die Drachenmänner für sich wirken lassen. Ihr ruheloser, noch immer
menschenverachtender Geist wird gestärkt durch Gebete an sie. Es gibt in vielen
Provinzen sicher noch zahlreiche Menschen, die bei Krankheit und Gefahr die Drachenmänner anrufen. So wie man in anderen Kulturen die negativen Kräfte des Satans
oder der Dämonen beschwört, um Macht über andere Menschen zu erlangen, so
geschieht es in diesem Raum mit den Drachenmännern, den Boten des Bösen,
wie ich sie auch bezeichnen möchte. Mit Besorgnis
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