0540 - Der Fluch der Zigeunerin
waren noch kühl. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Noch schützte sie der Kapuzenmantel, den sie sich aus ein paar alten Getreidesäcken zusammengenäht hatte. Aber schon bald würde er durchnäßt sein, und dann kam ihr Kleid an die Reihe. Sie konnte nicht die ganze Nacht über unter dem Dachvorsprung zwischen den beiden Häusern stehenbleiben; sie würde sich, barfuß auf kaltem Stein und bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt, die Influenza holen, vielleicht sogar daran sterben. Da nützten ihr dann ihre ganzen Kräuter und Heilkünste nicht viel.
Außerdem knurrte ihr Magen. Ihren Durst hatte sie aus einer Traufe voller schmutzigem Regenwasser gestillt, aber seit zwei oder drei Tagen hatte sie bis auf Löwenzahn und ein paar Wurzeln nichts gegessen. Auf den Feldern war ja noch längst nichts erntereif; die Saatzeit war doch gerade erst um, und die ersten Halmspitzen des Sommergetreides lugten vorsichtig aus den Ackerfurchen. Und ein Tier zu fangen, es aufzubrechen, auszuweiden und zu braten - das brachte sie einfach nicht fertig.
Einmal hatte sie es tatsächlich geschafft, einen jungen Hasen mit der Hand zu fangen; stundenlang hatte sie still vor seinem Höhleneingang gewartet. Doch dann hatte das kleine Langohr nicht einmal gezappelt, sondern sie nur, starr vor Angst, aus seinen großen schwarzen Augen todtraurig angeschaut. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das Tier zu töten. Im Gegenteil, sie hatte sogar noch ein paar Runkelblätter vom benachbarten Acker gesammelt und sie dem Hasen vor die Höhle gelegt. Dann war sie hungrig weitergegangen.
Seither konnte sie kein Fleisch mehr essen; jedesmal sah sie wieder diese großen, traurigen Hasenaugen.
Es war schon zu spät, um noch zu betteln. Jetzt waren nur noch Betrunkene unterwegs, die aus den Schenken heimwärts wankten. Und die Stadtbüttel! Die einen gaben nichts, die anderen würden sie höchstens ergreifen und ins Gefängnis werfen bis zum Morgen. Da war’s zwar trocken, aber hungern und frieren würde sie dennoch.
Sie brauchte ein paar Heller, um sich irgendwo in einer Herberge eine winzige Dachkammer mit einem Bündel trockenen Strohs zu erkaufen. Oder sie konnte in einem Mietstall bei den Pferden ruhen; da war es wenigstens auch warm. Aber das alles kostete.
Plötzlich sah sie den Mann.
Er ging mit sehr unsicheren Schritten. Trotz des Regens hatte er seinen Mantel nur über den angewinkelten Unterarm gelegt. Er sah aus, als sei er recht eilig aufgebrochen und habe keine Zeit mehr gehabt, ihn anzulegen.
Deutlich konnte Elena die Geldkatze an seinem Gürtel sehen. Sie schien gut gefüllt.
Der Mann war auch leidlich sauber und gut gekleidet. Ein reicher Edelmann.
Sicher würde er den Verlust seiner Geldbörse leicht verschmerzen. Wer sich so reich kleiden konnte wie dieser Mann, der hatte daheim noch viel mehr Geld.
So viel wollte sie gar nicht. Nur ein wenig nehmen, daß es für sie reichte. Wehmütig dachte sie an die vergangenen Zeiten zurück, an damals, als Großvater Romano immer ein Goldstück nach dem anderen aus des Teufels Börse gezaubert hatte, wenn es Not tat. Die Sippe hatte nie gelitten. Bis zu jenem unglückseligen Morgen, als sie die alte Blixbah begruben…
Drei Sommer lag das erst zurück, und doch glaubte Elena, es sei schon eine Ewigkeit seither vergangen. In ihrem kargen Leben zählte jeder Tag für eine Woche, vor allem in den harten Wintern. Sie konnte auch nie lange an einem Ort verweilen. Es lag ihr im Blut wie jedem rom, zu wandern und von einem Ort zum anderen zu ziehen. In den größeren Städten blieb sie länger als in den kleinen Dörfern. Es gab in den Städten mehr Menschen, unter denen sie unauffällig untertauchen konnte, um nur dort hervorzutreten, wo sie ihre Hilfe andienen konnte, um Krankheiten zu lindern. In den Dörfern gab es meist sowieso schon Kräuterweiber oder anderweitig Heilkundige.
Der reiche Edelmann näherte sich der Stelle, an der Elena in der Dunkelheit wartete. Er schritt an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken. Sie konnte seinen Atem riechen, der als weißer Nebel vor seinem Gesicht auftauchte und verwehte. Er stank nach Bier.
Die reichen Herren konnten es sich leisten, sich jeden Abend zu betrinken. Sie hatten genug Geld dafür. Ein Lehnsknecht oder Tagelöhner mochte gerade mal sonntags ein oder zwei Krüge kaufen können, zu mehr reichte es selten. Und wenn es ein Jahr mit schlechter Ernte war und der Bauer dem Knecht nur wenig Lohn zahlen konnte, weil er selbst darbte,
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