0540 - Der Fluch der Zigeunerin
doch wenigstens wissen, ob du fünfhundert Jahre alt bist. Ich weiß, daß du wesentlich älter sein mußt, als du aussiehst. Ein paar hundert Jahre bestimmt. Schließlich haben Don Christofero und ich dich am Hof des Sonnenkönigs gesehen, in Gesellschaft Seiner Majestät bei einer innigen Plauderei im Schloßpark von Versailles. Robert deDigue nanntest du dich damals, nicht wahr? Und Christofero war aus einem Grund, den er mir nie sagen wollte, gar nicht gut auf dich zu sprechen.« Tendyke lachte leise. »Vielleicht habe ich diesem Großmaul einmal bei einem Degenduell sein Beinkleid in schmale Streifen geschnitten… ich weiß es nicht mehr so genau. Wenn du einmal so alt bist wie ich, wirst du dich auch nicht mehr an jedes Detail erinnern können.«
»Auch nicht an dein richtiges Geburtsdatum?«
Er schüttelte den Kopf. »Fünfhundert Jahre… es kann hinkommen… oder auch nicht. Und den Tag weiß ich auch nicht mehr. Damals war alles ein wenig anders, wißt ihr?«
»Vielleicht erzählst du uns davon«, bat Zamorra.
Tendyke zuckte mit den Schultern. »Naja, vielleicht sollte ich es tatsächlich tun. Wenn ich heute Geburtstag habe, ist das vielleicht sogar eine passende Gelegenheit, nicht wahr?«
Er wog den Dolch in den Händen, zog ihn aus der Scheide und schob ihn wieder zurück. Nachdenklich strich er mit der Daumenkuppe über die Stellen, an denen die Edelsteine fehlten. Dabei schüttelte er bedächtig den Kopf.
»Was hat es mit diesem - alten Familienerbstück auf sich?« forschte Zamorra.
»Er gehörte einmal meinem Urgroßvater. Dann meiner Mutter. Schließlich mir. Ich habe diesen Dolch geliebt und gehaßt. Bis er mir abhanden kam. Und nun, nach Jahrhunderten, bringt ausgerechnet mein Erzeuger ihn mir zurück. Ich könnte ihn umbringen.«
»Komm, erzähle«, verlangte jetzt auch Nicole. »Wo wir gerade dabei sind - jetzt möchte ich auch wissen, was damals passiert ist. Woher kommst du, Robert Tendyke? Wer bist du wirklich?«
»Ein ruheloser Ahasver, von seiner eigenen Sippe, von seinem Volk geächtet. Ein Bastard«, sagte er bitter. »Der Sohn des Teufels!«
»Ein Freund«, sagte Zamorra. »Da ist doch noch mehr als dieses Selbstmitleid, das keiner von uns von dir kennt.« Tendyke straffte sich. »Es ist kein Selbstmitleid«, sagte er leise. »Es ist nur Selbsterkenntnis. - Nun gut, ich werde euch die Geschichte erzählen, so wie ich sie kenne. Ich muß allerdings gestehen, daß mir ein großer Teil davon selbst nur erzählt wurde. Es muß also nicht alles so sein, wie ich es wiedergebe; vielleicht verfälscht auch die Erinnerung vieles. Es ist einfach zu lange her.«
»Trotzdem lauschen wir gespannt«, versprach Zamorra..
***
Cologne, 1494:
Eine ganze Woche lang ließ man Elena im Kerker darben. Für ihr zerfetztes Kleid hatte man ihr einen zerschlissenen, fadenscheinigen Leinenkittel gegeben, der vor Schmutz starrte; an den Gestank gewöhnte sie sich ebenso wie an den ihres Kerkers.
Den mußte sie mit einer anderen Frau und drei Männern teilen. Die Wände waren feucht; das war genauso schlimm wie dauernder Regen. In einer Ecke des dunklen Raumes, in den nur durch das runde Loch in der Decke ein wenig Licht und Luft hereinkamen, sammelten sich die Exkremente.
Einmal am Tag wurde an einem Seil ein Eimer mit Wasser heruntergelassen, und man warf angeschimmeltes, steinhartes Brot herunter. Einer der drei Männer besaß keine Zähne mehr; sie waren ihm in der Folter ausgeschlagen worden. Ein anderer kaute ihm das Brot vor, damit er überhaupt etwas essen konnte.
Jeden Tag holten die Büttel einen von ihnen nach oben, zum Verhör. Obgleich sie wußten, daß oben Folterinstrumente warteten, kletterten sie hastig das Seil empor - mochte es schmerzhaft sein, aber so kamen sie für eine kurze Weile aus dem engen, stinkenden Loch heraus, in dem die Ratten pfiffen und raschelten. Beinahe hätten sie in einer Nacht, als Elena wirklich einmal für ein paar Stunden einschlafen konnte, ihr die Zehen abgefressen. Aber der Schmerz hatte sie geweckt, und sie hatte die ekelhaften Biester mit wütenden Tritten und lauten Schreien verscheuchen können. Doch die Ratten waren nicht die einzigen Mitbewohner; da waren auch noch allerlei beißende Insekten, die für entzündete kleine Wunden sorgten, die nicht mehr heilen wollten.
Gern hätte Elena etwas für ihre Mitgefangenen getan, um ihre Pein zu lindern, aber sie besaß ihre Kräuter nicht mehr. Das Bündel war in jener Nacht verlorengegangen. Vielleicht
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