0558 - Aus dem Jenseits entlassen
drückte ihr noch eine Kerze in die rechte Hand, was sie mit einem kurzen Nicken quittierte.
Sie hob das rechte Bein, drückte es vor und streckte es dabei aus.
Der erste Schritt reichte aus, um in das Bild hineingehen zu können.
Es war auch für mich ein Phänomen. Als wäre überhaupt keine Wand vorhanden, so ging Erica in das Gemälde hinein. Einen Lidschlag später war sie zu einem Teil dieses Bildes geworden. Gleichzeitig wehte eine winzige Flamme über dem Kerzendocht, fand Nahrung und setzte den Docht zuckend in Brand.
Sie hatte den Anfang gemacht, ging weiter und nahm hinter der Kutsche Aufstellung.
Erst jetzt erfüllte Unruhe den Raum, denn viele scharrten nervös mit den Füßen. Über dem alten Steinboden hing eine Staubschicht.
Trotz ihrer inneren Hast und Nervosität drängte keiner den anderen. Hintereinander und der Reihe nach stiegen sie in das Gemälde hinein und füllten es auf.
Bei jedem, der hineingestiegen war, entstand über dem Kerzendocht eine kleine Flamme, die sich auf ihn niedersetzte und dafür sorgte, daß er anfing zu brennen.
Sie gingen innerhalb des Bildes oder innerhalb des Landes so weiter, wie sie auch hineingestiegen waren. Sehr diszipliniert. Es gab kein Drängen, kein Schubsen, ein jeder wußte genau, wo er hinzugehen und welchen Platz er einzunehmen hatte. Das Bild selbst deckte sämtliche Geräusche zur absoluten Lautlosigkeit ab. Ich vernahm weder Schritte noch Stimmen. Das Auffüllen des Gemäldes glich einem gespenstischen Vorgang.
Mir fiel allerdings eine Tatsache auf. Keiner der ins Bild Gekletterten stieg auf den Bock, um die Führung der Kutsche zu übernehmen. Er blieb frei.
Da man auf den Kutscher wartete, mußte er fehlen. Ich ging davon aus, daß er noch kommen würde.
Wenn ja, würde er sicherlich den gleichen Weg nehmen, den auch ich gegangen war. Ich schaute zurück, sah aber nur die leere Treppe.
Dort bewegte sich niemand.
Also konzentrierte ich mich wieder auf das Bild. Der letzte stieg soeben ein. Auch er benötigte nur einen Schritt. Es war ein kleiner Mann, dessen Perücke sich verschoben hatte. Er schaute sich noch einmal um. Sein Blick kam mir irgendwie traurig vor, als würde er von etwas Abschied nehmen, das er nie mehr wiedersah.
Dann schwebte auch über seiner Kerze ein Licht und hing sich an den Docht wie eine Klette.
Ich stand allein im Keller. Etwas rann fröstelnd über meinen Rücken. Das Licht brannte noch. Beide Lampen kamen mir kalt und grausam vor.
Langsam setzte ich mich in Bewegung und nahm den gleichen Weg, den auch die anderen gegangen waren. Wegen der Stille kamen mir meine eigenen Schritte laut vor.
Einen halben Yard vor dem großen Gemälde, das nun mein gesamtes Blickfeld einnahm, blieb ich stehen. Übergroß kam mir die schwarze Leichenkutsche vor. Dahinter standen die Kerzenträger in einer halbrunden, langen Schlange.
Ich wollte mich auf die Person im Glassarg konzentrieren, als ich die Veränderung bemerkte, die nun mit allen Menschen vor sich ging. Es war wie früher bei Jane Collins, als diese sich noch zu einem Monstrum verwandelte, wenn das Licht des neuen Tages über der Stadt lag.
Die Gesichter der Männer veränderten sich zu Totenköpfen. Sie schoben sich irgendwie über die anderen hinweg. Da waren keine Haare mehr zu sehen, da verschwanden die Münder, als hätte sie jemand mit Pinselstrichen verändert.
Da Erica von mir aus gesehen relativ nahe stand, konzentrierte ich mich auf sie.
Auch in ihrem Gesicht bildeten sich Hautknoten, die wenig später abfielen. Aber sie blieb und bildete statt dessen die neue Form.
Glänzende, fahlgelb schimmernde Knochen, die sich zu einem häßlichen Totenschädel zusammenschoben.
Ein Bild, das mich störte, weil ich eben wieder an Janes Schicksal denken mußte.
Hier bekam jeder dieses Grauen zu spüren, und selbst die Kleidung veränderte sich auf wundersame Art und Weise.
Aibon war ein Land, in dem die Märchen geboren waren. Alles, was geschah, mußte man mit den Augen eines Kindes ansehen und es einfach hinnehmen. So auch diese Verwandlung.
Trauerkleidung bildete sich.
Schwarze Jacken, schwarze Hosen und bleiche Hände, deren Finger die leuchtenden Kerzen umklammert hielten. Ein Bild des leisen Grauens zeigte sich mir, und ich atmete scharf ein.
Noch hatte ich nicht gesehen, wer sich im Innern des Glassargs befand. Ich ging einen Schritt nach links, da ich eine bessere Perspektive bekommen wollte, und sah die in dem Sarg liegenden Person.
Es war eine
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