0558 - Aus dem Jenseits entlassen
Frau!
Noch jung und mit einem Haar versehen, das zu Lebzeiten wohl einen goldenen Schimmer gehabt haben mußte, da an einigen Stellen diese Farbe noch durchschien. Ansonsten herrschte ein stumpfes Grau vor.
Die Tote trug ein helles Gewand und lag auf dem Rücken. Ich interessierte mich in erster Linie für das Gesicht.
Irgendwo hatte ich es schon einmal gesehen, auch wenn es jetzt so kalt und älter wirkte.
Es lag noch nicht lange zurück, als ich dieser Frau gegenüber gestanden hatte.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken. Es ging um Aibon, und ich ließ die Fälle Revue passieren.
Doch, da war etwas, und es lag nicht mal lange zurück. Ein Jahr höchstens.
Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Jetzt wußte ich, um welche Person es sich handelte.
Im Sarg lag eigentlich eine Tote. So genau wußte ich das aber nicht. Jedenfalls erinnerte ich mich noch sehr gut an ihren Namen.
Es war Jarveena, die Rächerin aus Aibon!
***
Dieses Wissen haute mich zwar nicht von den Beinen, trieb mir aber den Schweiß aus den Poren.
Jarveena also, die mich unbedingt in einem gläsernen Sarg hatte ersticken lassen wollen.
Meine Gedanken glitten zurück. Ich dachte darüber nach, wie der Fall damals geendete hatte.
Damals war sie erschienen wie eine Fee, eine böse Fee. Auf dem Motorway zwischen Heathrow und London hatte sie ein Taxifahrer zum erstenmal gesehen. Sie hatte drei Särge hinter sich hergezogen.
Totenkisten aus Glas, die auf Opfer warteten.
Eines davon sollte ich werden.
Okay, ich hatte auch in dem verdammten Sarg gelegen, aber Freunden war es gelungen, mich zu befreien, und Jarveena hatte ihre gerechte Strafe bekommen. [1]
Oder doch nicht?
So sicher konnte ich mir nicht mehr sein. Weder Suko, der rote Ryan noch ich hatten sie erledigt. Die »Trooping Faries« waren gekommen, jene Wächter aus Aibon, eine Mischung zwischen Engeln und Feen. Sie hatten Jarveena geholt, aber nicht getötet, denn ein »Trooping Farie« killte nicht. Mehrere dieser Wesen hatten sie gepackt und waren mit ihr verschwunden.
Wohin, das wußte ich nicht. Wahrscheinlich war sie in den anderen Teil des Landes Aibon gelangt, in die düstere Welt, wo Guywano herrschte und seinen dämonischen Schatten warf.
Er hätte sie bestrafen können, und er hatte sie bestraft. So wie sie aussah, kam sie mir vor, als würde sie nicht mehr leben. Ich strich über mein Gesicht. Die Gedanken wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Okay, wenn Jarveena schon mit dem Tod bestraft worden war, weshalb sollte ich dann bei ihrer Beerdigung zugegen sein?
Ich schaffte es einfach nicht, eine Antwort zu finden. Wahrscheinlich würde ich sie auch nicht in dem Keller herausbekommen. Ich mußte einfach in das Bild hinein.
Der Platz des Kutschers war noch leer. Sollte ich ihn einnehmen?
Hatte man ihn für mich reserviert?
Das wäre schon pervers gewesen, aber nicht auszuschließen.
Ein Geräusch durchbrach meine Gedanken. Ich dachte an die freie Treppe hinter mir und drehte mich um.
Jemand kam von oben.
Er stieg die Stufen hinab wie ein König, und er war nicht allein, denn seine Rechte umklammerte die Hand, einer Frau, die nur einen Bademantel trug, während sich der andere normal angezogen hatte.
Was heißt normal?
Man konnte ihn mit den Männern vergleichen, die sich der Prozession angeschlossen hatten.
Schwarze Kleidung, weißes Hemd und einen Zylinder auf dem Kopf. Für mich gab es keinen Zweifel, dieser Mann war der Kutscher.
Er hatte mich längst gesehen. Dennoch stoppte er nicht und ging weiter, als sei nichts geschehen. Er wollte mich überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, im Gegensatz zu der braunhaarigen Frau an seiner rechten Hand. Sie schaute mich bittend an. Ihre Stimme klang wie ein Flehen. »Mister, ich… ich bitte Sie. Holen Sie mich hier weg!«
Ich sagte nichts und ließ ihn kommen. Erst als die beiden zwei Schritte vor mir entfernt waren, streckte ich meinen Arm aus.
»Stopp«, sagte ich hart. »Bis hierher und nicht weiter!«
Er hielt tatsächlich an.
Unter der glatten Krempe des Zylinders sah ich ein breites Gesicht. Die Haut sah großporig und gerötet aus, wie die eines Trinkers. Die Pupillen glitzerten wie dunkle Eiskörner.
»Wer sind Sie?« fragte er mich. Seine Stimme klang hoch und gleichzeitig rauh.
»Das frage ich Sie.«
»Ich gehöre dazu.«
Mein Daumen zeigte über die Schulter. »Zu denen dort im Bild. Also zu Aibon?«
»Ja – nur was ist Aibon?«
»Euer Jenseits.«
»Es ist das Jenseits.«
Ich hob die
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