0559 - Kapitän Sensenmann
als würden wir stehen und die Besatzung des anderen Kahns darauf warten, daß wir reagierten.
»Es wird, wenn alles so bleibt, an der Backbordseite an uns vorbeiziehen«, sagte Suko.
»Was sollte sich ändern?«
»Ein Kurswechsel. Vielleicht eine Kollision. John, ich rechne mit dem Schlimmsten.«
Der Vogel war nicht zu sehen. Statt dessen wuchsen die Aufbauten aus der grauen Suppe, als hätte jemand Schleier von einem Bild weggezogen. Wir sahen sie zwar nicht klar, aber wir konnten erkennen, daß dieser Kahn mit zwei Masten ausgerüstet war.
Segel hingen in lappenartigen Fetzen von den Rahstangen herab.
Takelage peitschte um die Tücher. Jakobsleitern bewegten sich im Wind. Die Decks waren mit Kanonen bestückt. Ihre Mündungen glotzten wie große Augen aus den Luken der Bordwand.
Befand sich auch Leben auf dem Schiff?
Noch hatten wir keines gesehen. Führerlos trieb das Schiff weiter.
Über unser Deck hallte eine Megaphonstimme. Commander Tucker sprach den alten Segler an.
Er bekam keine Antwort, auch als er drohte, das Schiff durch Gewalt stoppen zu lassen.
»Kannst du ihm das verdenken?«
Mein Freund hob die Schultern. »Es wäre natürlich interessant zu erfahren, was passiert, wenn wir diesen Kahn entern?«
»Ho – du willst an Bord?«
»Wenn alle Stricke reißen.«
»Warte ab.«
Ich hatte ihn bewußt zurückgehalten, denn unser Freund Tucker reagierte auf seine Weise. Er hatte das Feuer freigegeben. Wir erschraken, als die Geschütze krachten. Salven aus den feststehenden Maschinengewehren hämmerten über die Bordwand des Kahns. Sie waren extra hoch angesetzt worden, so daß die schweren Geschosse in die Takelage hieben und noch weitere Löcher in die zerfetzten Segeltücher rissen.
Leider tat sich nichts. Das Schiff blieb auf Kurs. Keine Kugelsalve konnte es aufhalten.
Mittlerweile hatte es uns erreicht. Sein Bug befand sich mit dem unseren auf einer Höhe. Nur noch wenige Sekunden, dann war die perfekte Enterposition erreicht.
Schatten erschienen, als hätten sich Nebelfetzen zu Gestalten verändert. Plötzlich waren sie da. Sie fielen praktisch aus der Höhe herab, mußten in der Takelage gehangen und auf einen günstigen Zeitpunkt gelauert haben.
Im Nu war unser Schiff besetzt.
Allerdings nicht von normalen Seeräubern. Ich ging davon aus, daß es sich um Zombie-Piraten handelte…
***
Einer von ihnen hatte sich ausgerechnet mich als Ziel ausgesucht. Es war ihm gelungen, sich sehr hart abzustoßen. Im hohen Bogen flog er auf das Deck des Patrouillenbootes und damit auf mich zu.
Es war eine zerlumpte Gestalt, deren Gesicht in der Hauptsache aus bleichen Knochen bestand. An den Armen hingen Hautfetzen, an denen auch die Kleidung klebte.
Die Gestalt war bewaffnet. Ob Degen oder Säbel, das konnte ich nicht erkennen. Jedenfalls schlug sie mit der Waffe zu, bevor sie noch auf das Deck prallte.
Ich war zur Seite gesprungen. Suko kam mir nicht zu Hilfe. Er lief weg, denn er hatte von der Brücke her Schreie vernommen. So mußte ich mich um den Untoten kümmern.
Lange Haare umwehten die Knochengesichter. Eine der beiden Augenhöhlen kamen mir vor wie der Eingang zu einem Tunnel.
Als die Klinge schräg auf mich niederfuhr, drehte ich mich ab und zog gleichzeitig die Beretta.
Der Schuß peitschte auf, als die Gestalt wieder zuschlagen wollte.
Meine Silberkugel hatte nicht fehlen können. Sie war genau in die Knochen über dem Hals gedrungen.
Zuerst durchrann die Gestalt ein Zittern, als würde sie unter Strom stehen. Die Kugel war irgendwo in den Gebeinen steckengeblieben.
Und von dort strahlte sie ab.
Es war ein silberhelles Leuchten, das diesen uralten Zombie überfiel und vernichtete.
Als wäre ein Windstoß über das Deck gefegt, so hob es den zerstörten Knochenmann ab. Staub und Gebeine vermischten sich, als sie in den Nebel eindrangen.
Ich hatte den Beweis bekommen. Meine Silberkugel zerstörte dieses widerliche »Leben«.
Wo stand der nächste?
Ich entdeckte keinen weiteren Gegner. Von der Brücke her vernahm ich die Schreie und das harte Tacken eines Schnellfeuergewehrs. Ich sah die Bordwand des Seglers immer höher wachsen. Das Schiff hatte sich jetzt sehr nahe an unser Patrouillenboot herangeschoben.
Gut zum entern!
Ich lief auf die Backbordseite. Niemand stellte sich mir in den Weg. Vom Geisterschiff her sprang wieder eine Gestalt auf unser Deck. Für einen sicheren Schuß leider zu weit entfernt.
Wer den Gegenstand geschleudert hatte, bekam ich nicht mit.
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