056 - Der Werwolf
einem federnden Satz sprang er den Wachhund an. Keiner der Gegner knurrte oder gab Laut, nur ihre schnellen, heißen Atemzüge waren zu hören. Die Schatten der kämpfenden Tiere zeichneten sich im Weißen Mondlicht gegen die helle Hauswand ab. Lautlosen Schemen gleich verbissen sich die erbitterten Feinde ihneinander. Langsam ließen die Kräfte des Hundes nach. Die Fangzähne des Wolfes schnappten noch einmal zu, griffen fester. Der Kampf war entschieden.
Die schwarze Bestie hob den Kopf und leckte sich mit der längen Zunge genüßlich über das Maul. Vom Dorf her drang kein Laut herüber. Die feigen Köter hatten sich verkrochen und die Menschen kein Gehör für das blutige Drama, das sich da draußen in der Nacht abspielte.
Wieder stand das bösartige Lächeln im Gesicht des Wolfes. Er würde sie töten – alle! Die kleinen, schräggestellten Augen starrten zu dem angelehnten Fenster hinüber, hinter dem das Baby schlief.
Dann verschmolz seine Gestalt mit dem Schatten eines Zierbusches.
Als sein Atem wieder ruhig ging, schlich der Wolf näher an das Fenster heran. Er hatte sich die Lage der Räume bei seinen Besuchen genau eingeprägt und handelte nun mit der ihm eigenen Schnelligkeit. Er drehte den Schädel, sog die Gerüche seiner Umgebung ein und prüfte sie. Keine Gefahr.
Mit den Vorderläufen schob er sich an der Hauswand empor und stieß mit Schnauze und Schulter den angelehnten Fensterflügel auf. Dann sprang er, jedoch zu kurz. Er überschlug sich in der Luft und landete wieder auf dem Boden.
Ein zweiter Versuch trug ihn in einem flachen Bogen durch die Öffnung. Er kam auf einem kleinen, wolligen Teppich auf, der sich unter seinen Pfoten verschob und wegrutschte. Dumpf prallte sein Körper gegen einen Stuhl, dessen Beine laut über den Boden scharrten.
Der Geruch des Kinderzimmers schlug über ihm zusammen. Von dem glatten Fußboden her stank es stechend nach einem Poliermittel, denn die Frau des Arztes – dieses Verbrechers – war eine gute Hausfrau. Über ihm hing eine Wolke aus Seife und Puder, vermischt mit säuerlicher Milch und Urin.
Der schwarze Körper verharrte in völliger Lautlosigkeit. Die spitzen Ohren spielten nach allen Richtungen. Im Haus blieb alles ruhig, nur in der Heizung knackte es ab und zu, und der leise Atem des Säuglings war zu hören.
Der Wolf riß seinen Rachen auf, und wieder war es, als grinse oder lache er. Nur ein Satz trennte ihn noch von der Lassner-Brut!
Er sprang fast senkrecht in die Höhe und landete in den weichen Kissen des Kinderbettes. Genau vor seiner Schnauze lag das Kind. Die Augen waren geschlossen, die winzigen Fäuste lugten unter der Decke hervor und befanden sich in Höhe des Kinnes. Der Schnuller war aus dem feuchten Mund gefallen und lag neben dem Ohr des Babys. Das Tier zuckte zurück vor der Wolke des säuerlichen Atems, der ihm entgegenschlug. Dann aber kam wieder das Sausen des Blutes über ihn, eine Art Rausch, die ihn zur mordlüsternen Bestie werden ließ.
Der Rachen riß auf, der Wolf legte den Kopf schräg und biß zu.
Mit einem weichen Satz verließ der Wolf das Kinderbett und huschte vorsichtig über den ekelhaft glatten Parkettboden zur Tür. Eine Pfote drückte die Klinke nieder, die andere zwängte sich in den Spalt, den er mit seinem Kopf vergrößerte, bis er durchschlüpfen konnte.
Er glitt durch den Korridor mit seinen hohen Wänden und den glasgerahmten Grafiken. Vor einer anderen Tür blieb er stehen. Hier schlief die Frau des Arztes, ein blondes Etwas mit mittlerer Reife und weißer Haut. Der Wolf hörte ihre Atemzüge durch das Holz der Tür, die einen unangenehmen Geruch nach Schleiflack ausströmte.
Der mächtige Körper des Tieres richtete sich auf. Ein Druck auf die Klinke, dann ließ er sich nach vorn fallen, um die Tür aufzuschieben. Dabei ritzten seine Krallen das Holz. Es gab ein lautes, scharrendes Geräusch.
Anita Lassner wurde schlagartig wach. Sie reagierte schnell. Die Sorge um ihr Kind ließ sie nach dem Lichtschalter greifen. Als der Wolf sich vorwärts schnellte, ertönte ein hartes Klicken. Einen winzigen Sekundenbruchteil wurde das Tier geblendet, aber es erkannte die Richtung, in der die Frau zu finden war.
Heiser röchelnd, mit weit aufgerissenem Rachen und gesträubtem Fell, landete er auf dem Bett. Seine Krallen fetzten den dünnen Stoff des Nachthemdes auseinander, und die Kiefer schlossen sich um den Unterarm der Frau. Ein Zahn durchdrang das Glas ihrer Uhr, und winzige Splitter
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