057 - Im Banne des Unheimlichen
schnell: »Ist es für Sie eine Lebensfrage?«
»Nein, wenn Sie damit meinen, ob ich genügend Geld habe.«
»Ich eröffne in acht Wochen das Grand Théâtre«, fuhr er fort. »Wenn Sie bis dahin warten können, werde ich Ihnen eine wirklich gute Rolle geben.«
Sie war enttäuscht, aber auch wieder ganz froh. Sie hatte sieben Monate ununterbrochen gearbeitet, ein paar Wochen Ferien waren ihr darum sehr willkommen.
Auf dem Nachhauseweg suchte sie kurz das Orpheum auf, um ihre dort zurückgelassene Garderobe abzuholen. Außer technischem Personal war glücklicherweise niemand im Theater anwesend.
Als Betty Carew ihre Sachen im Vorraum beim Bühneneingang bereitgelegt hatte, bat sie den Portier, ihr ein Taxi zu besorgen.
»Ach ja -«, rief der Mann, »ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß sich vor etwa einer Stunde ein Herr nach Ihnen erkundigt hat. Er wollte wissen, wo Sie wohnen, aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Und dann fragte er noch, ob Sie mit Dr. Laffin verwandt seien.«
Das überraschte Betty, denn von ihrer Beziehung zum Doktor wußten nicht viele Leute.
»Wer war es denn, Jones?«
»Das weiß ich nicht, Miss. Aber es war ein sehr freundlicher Herr - ein Geistlicher, nehme ich an.«
Der Portier ging hinaus, um für Betty ein Taxi zu holen, kam aber gleich wieder zurück.
»Der Herr ist immer noch da, Miss Carew! Er wartet auf der anderen Straßenseite. Möchten Sie ihn sprechen?«
»Wen? Den Geistlichen?« fragte sie verblüfft. »Lassen Sie mich ihn zuerst ansehen.«
Sie ging zur Tür und sah hinaus. Auf dem gegenüberliegenden Trottoir wanderte ein kleiner, untersetzter Mann mit langem schwarzem Bart langsam auf und ab. Er war ganz schwarz gekleidet und haue einen niedrigen Hut auf, wie ihn Priester tragen. Sie überlegte einen Augenblick.
»Wollen Sie ihn bitten, herüberzukommen?«
Einige Augenblicke später kam der Theaterportier mit dem bärtigen Herrn über die Straße und ließ ihn eintreten.
»Sind Sie Miss Carew?« fragte der Fremde und nahm den Hut ab.
Er hatte eine angenehme, sanfte Stimme, und aus seinen Augen strahlte eine Herzensgüte, die ihn sofort sympathisch machte.
»Ja, die bin ich. Wünschen Sie mich zu sprechen?«
Seine Stimme kam ihr merkwürdig bekannt vor. Irgendwo hatte sie sie schon gehört. Sie grübelte darüber nach, konnte sich aber nicht erinnern.
»Ja, ich wollte Sie sprechen.« Er zögerte. »Mein Name ist - Bruder John. Wenigstens nennen mich meine Freunde so.«
Er sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent. Sie mußte ihn kennen!
Der Portier hatte sich in seine Loge zurückgezogen.
»Sie sind Dr. Laffins Mündel, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Und Sie sind Schauspielerin, Miss Carew?«
»Ja, ich bin Schauspielerin«, sagte sie und fragte sich, was nun kommen würde.
»Irre ich mich in der Annahme, daß Sie die Dame sind, die gestern noch in einem Schaufenster in der Duke Street saß?«
Er sprach langsam und schien jedes Wort genau abzuwägen.
Betty errötete.
»Ja, ich bin es«, gestand sie lächelnd. »Ich hoffe, Sie sind nicht gekommen, um einen Schreibtisch zu kaufen?«
»Nein, Miss Carew, deshalb bin ich nicht gekommen. Aber wenn Sie es nicht als zudringlich empfinden, würde ich Sie gerne fragen, warum Sie etwas so Ungewöhnliches taten?«
Ihre erste Regung war, ihn abzuweisen, aber in seinen Augen lag ein so flehender Ausdruck, daß sie es nicht über sich brachte.
»Ich tat es, weil Dr. Laffin es wünschte.«
»Hat Dr. Laffin Sie ins Vertrauen gezogen? Ich meine, wissen Sie, warum er Sie so verwendete?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete sie kurz.
Er biß sich auf die Lippen und wandte seine Augen nicht von ihrem Gesicht.
»Gehörte es - gehörte es auch zu Ihren Pflichten, jemandem, der zu Ihnen kommen sollte, eine Botschaft zu überreichen?«
Sie nickte, ohne zu zögern.
»Ich fürchte, Sie halten mich für zudringlich«, sagte Bruder John, »aber die Sache geht mir sehr nahe, denn sie berührt den Frieden und das Glück eines Menschen, dem ich sehr zugetan bin. Wenn Sie dies bedenken, werden Sie mir sicher meine befremdliche Neugierde verzeihen.«
»Vielleicht können Sie mich aufklären? Was hatte Dr. Laffin im Sinn, als er mich um diese Zurschaustellung ersuchte?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Sind Sie Priester?«
»Nein, Miss Carew«, sagte er traurig. »Ich war Priester der anglikanischen Kirche, wurde aber ausgestoßen, weil
Weitere Kostenlose Bücher