057 - Im Banne des Unheimlichen
verwendet worden. Als die junge Dame gefunden wurde, trug sie über ihrem Nachtanzug ein seltsames, weißes Gewand, das ihre Vermieterin früher nie bei ihr gesehen hat. Und sie lag auf einer gewöhnlichen Militärtragbahre, wie man sie überall billig erstehen kann.«
»Glauben Sie, daß sie zwei Tage und Nächte bewußtlos war?« fragte Bill ungläubig.
»Vielleicht. Aber wenn man eine mit dem erwähnten Rauschgift behandelte Person sieht, würde man nicht glauben, daß sie betäubt ist. Die Wirkung ist nämlich die, daß für die Dauer des Rausches jedes Erinnerungsvermögen ausgeschaltet wird. Man kann sich also nicht an die Vorgänge während des Rausches erinnern, das heißt, man erlebt sie zwar, vergißt aber sekundenschnell, was mit einem geschehen ist. Wir können also nur hoffen, daß es vielleicht doch lichte Momente gegeben hat, in denen das Gift nicht voll wirkte, so daß trotz allem die eine oder andere Einzelheit noch zum Vorschein ...« Bullott stieß seinen Begleiter an. »Was will denn der Vogel da?«
›Der Vogel‹ war ein herabgekommen aussehender Mann, der die beiden offenbar auf der Straße erwartet hatte und nun auf sie zukam, um sie anzusprechen. Sein verwüstetes Gesicht, das zurücktretende, unrasierte Kinn und der scheue Blick seiner kleinen, wässerigen Augen ließen Holbrook vermuten, daß es ein Verbrecher sein müsse. Bullott mit seinem glänzenden Gedächtnis wußte sogar gleich, wer es war.
»Na, Tinker, seit wann sind Sie wieder auf freiem Fuß?«
Tinker machte ein langes Gesicht.
»Das ist nämlich Mr. Tinker Lane«, stelle Bullott unbefangen vor, »ein Seemann, der sich zwischen seinen Einschiffungen ein wenig als Fassadenkletterer betätigt. Was wünschen Sie, Tinker?«
»Von Ihnen nichts, Sir! Ich wollte nur diesen Herrn sprechen, da mir jemand gesagt hat, er sei Reporter.«
»Mich?« fragte Bill überrascht.
»Jawohl, Sir.«
Bullott zog sich zurück und ließ die beiden allein.
»Verzeihen Sie, Sir«, begann der Vagabund mit heiserer Stimme, während ein arger Fuselgeruch aus seinem Mund strömte, »aber auf einer Reise nach Australien hat mir einmal ein Kamerad erzählt, er habe von einer Zeitung eine Stange Geld bekommen, weil er den Leuten eine Geschichte von einer Seeschlange erzählte, die er mit eigenen Augen gesehen hatte.«
Bill lachte.
»Falls Sie mir auch eine Geschichte von einer Seeschlange erzählen wollen, verschwenden Sie Ihren wohlriechenden Atem ganz umsonst!«
»Nein, Sir, es handelt sich um etwas ganz anderes. Ich kenne eine Geschichte, die Gold wert ist. Ich wette, man könnte Tausende damit herausschinden. Sehen Sie sich einmal das an!«
Vorsichtig spähte Tinker zuerst nach allen Seiten, ob er nicht beobachtet werde, dann holte er aus den Tiefen seiner Hosentasche einen kleinen, grüngoldenen Stern hervor, der in der Mitte eine Inschrift trug. Bill erkannte, daß es Griechisch war, vermochte jedoch die Worte weder zu lesen noch zu übersetzen.
»Fünf Spitzen -«, bemerkte Tinker Lane wichtig und berührte mit seinem schmutzigen Zeigefinger jede einzelne, »Schmerz, Sorge, Hunger, Durst und Tod. Wie gefällt Ihnen das?«
»Klingt recht nett - aber was soll's? Ist das ein Werbespruch für eine Wundermedizin?«
»O nein, das ist eine ganze Geschichte.« Von neuem blickte Tinker vorsichtig umher. »Warum man gerade mich zum Eintritt aufgefordert hat, weiß ich nicht. Ich habe schon viermal im Kittchen gesessen. Man möchte nicht glauben, daß ein Verein sich um solche Mitglieder bewirbt. Ich verstand auch gar nicht, was alles dahergeschwatzt wurde. Als ich die Loge verlassen wollte, klopfte mir jemand auf die Schulter.«
»War das bei den ›Stolzen Söhnen von Ragusa‹?« fragte Bill.
»Na, endlich haben Sie's kapiert. Aber lassen Sie mich weitererzählen. Der Mann, der mir auf die Schulter klopfte, war ein alter Kamerad von mir, der in Singapur fünf Jahre abgesessen hat, weil er den Steuermann erstochen hatte. Er sagte mir, er sei in den Ostindiendocks angeworben worden, als er dort herumlungerte.«
Bill winkte Bullott herbei.
»Hören Sie doch zu - unser Freund hier erzählt eben eine kleine Geschichte über die Stolzen Söhne!«
»Ich habe Ihnen ja die Geschichte noch gar nicht erzählt«, protestierte Tinker, »das war doch erst die Einleitung.«
»Na, dann weiter! Was wollte der alte Schiffskumpan, der Ihnen auf die Schulter klopfte?«
»Ich wußte, um die Wahrheit zu sagen, zuerst gar nicht, daß er es war, denn er hatte
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