057 - Schreckensmahl
auf diese Dinge spezialisiert.
Ich bin gewissermaßen vorbelastet.«
Sie lachte.
»Meine Vorfahren haben dieses ungewöhnliche Hobby
angefangen. Ich kann nicht umhin, gelegentlich hier in dieses Haus zu kommen,
um die Puppen zu sehen. Ich bin schon eine komische alte Frau.«
»Aber Mrs. Moorefield!« Joan Berry schüttelte den Kopf.
»Sagen Sie so etwas nicht! Es gibt Dinge, an denen das
Herz eines Menschen hängt.«
»Ja, da haben sie recht.«
Mrs. Moorefield zeigte Mrs. Berry alle Puppen. Einige durfte Joan in die Hand nehmen.
Die junge Frau konnte sich der Faszination dieser
lebensnahen Gestalten nicht entziehen.
»Man könnte meinen, sie hielten nur den Atem an«,
murmelte sie. Mrs. Moorefield lächelte.
»Ich habe viele interessante Leute nachgebildet«, gestand
sie.
»Menschen aus dieser Gegend, Fremde, Besucher. Die
Sammlung ist bunt wie das Leben selbst. Am liebsten hätte ich die Puppen in
meinem Haus in Radnor. Aber die meisten würden wohl kaum einen so langen
Transport unbeschadet überstehen.«
Dann drückte Mrs. Moorefield ihr eine Puppe in die Hand,
die Joan Berry zusammenzucken ließ.
Die Puppe stellte einen Mann dar. Das Gesicht erinnerte
sie an ein Konterfei, das sie erst vor ein paar Tagen gesehen hatte.
Die Puppe stellte Dave Hurl, den Maler, dar!
Die buschigen Brauen, das ausdruckstarke, markante
Gesicht, die Nase, diese Lippen! Alles stimmte!
Die Nachbildung hielt sogar einen kleinen Pinsel in den
Händen, dessen Spitze in einer Metallhülse steckte …
Joan Berry schloß für den Bruchteil einer Sekunde die
Augen.
Alles, was ihr Mrs. Biller erzählt hatte, stand plötzlich
wieder vor ihr.
»Er hat mir mal Modell gestanden. Ein bewundernswerter
Mann, dieser Mister Hurl«, vernahm sie die Stimme von Mrs.
Moorefield wie durch eine Wattewand. Das Blut rauschte in
den Ohren der jungen Frau. »Seine Familie, die Billers, bei denen er wohnte,
sah das natürlich nicht gern. Warum, das mag der Himmel wissen. So kam er
heimlich zu mir herüber. Ist Ihnen nicht gut, Mrs. Berry?« fragte die alte Dame
plötzlich besorgt, als sie sah, daß Joan kreidebleich wurde.
»Kommen Sie ‘raus auf den Balkon! Die Luft hier ist verbraucht.
Aber leider kann ich nichts daran ändern. Das Fenster ist fest verschlossen, um
Licht und Witterungseinflüsse fernzuhalten. Kommen Sie!« Mrs. Moorefield nahm
sie am Arm, nachdem Joan die Puppe mit dem Gesicht Dave Hurls auf ihren Platz
zurückgestellt hatte.
»Danke, es ist schon wieder besser!« Joan Berry seufzte.
Sie schämte sich des Zwischenfalls und ärgerte sich, daß sie wieder schwach
geworden war.
Alles hatte eine natürliche Erklärung. Man mußte die
Dinge nur von zwei Seiten hören. Mrs. Biller und ihre verrückte Geschichte von
der Hexe!
Mrs. Moorefield war eine Künstlerin, die Puppen
anfertigte.
Stoffpuppen mit Tonköpfen. Was war daran so
geheimnisvoll?
Als Frank zum Wochenende eintraf, unterließ sie es, ihm
von dem Vorfall zu berichten. Sie erwähnte zwar die erstaunliche
Puppensammlung, und Mrs. Moorefield, die zum Kaffee bei ihnen eingeladen hatte,
hatte ebenfalls keinen Grund, nicht von ihrem Hobby zu sprechen. Frank Berry
hatte am gleichen Tag Gelegenheit, ebenfalls die Sammlung zu sehen. Er war
begeistert. Da auch er nichts Mysteriöses darin sah, war für Joan Berry die
Angelegenheit vergessen.
Mrs. Moorefield blieb drei Tage länger, als sie geplant
hatte.
Joan Berry war der Besuch angenehm. Man kam gut zurecht
mit der alten Dame.
Außerdem kümmerte sie sich um Eric. Und wer Kinder
liebte, konnte nicht böse sein.
Am achten Tage reiste Mrs. Moorefield wieder ab. Ein Taxi
kam und brachte sie zum Bahnhof. Vom Auto her rief sie der winkenden Joan und
dem kleinen Eric ein herzliches auf Wiedersehen zu.
»Hoffentlich, Mrs. Moorefield! Kommen Sie bald wieder!«
»Ja, komm bald wieder, Grandma Moorefield!«
Eric führte einen wahren Freudentanz an der Seite seiner
Mutter auf.
Joan Berry hatte an diesem Tag noch die Wäsche zu
richten.
Sie suchte nach dem roten Frotteehemd das Eric übers
Wochenende getragen hatte. Sie fand es nirgends. Auch der Junge konnte ihr
keine Auskunft geben. Das rote Frotteehemd blieb verschwunden.
Joan Berry machte sich keine weiteren Gedanken über
diesen Vorfall. Wahrscheinlich hatte Eric das Hemd irgendwo an einen Baumast
oder den Zweig eines Busches gehängt und dort vergessen.
Der Sommer ging vorüber. Joan Berry lebte sich ein. Mit
Mrs. Biller kam sie kaum noch zusammen. Nur hin und wieder
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