057 - Schreckensmahl
jedoch erst nach etwa zwei Stunden
fest, als sie nach Eric rief. Der Junge gab keine Antwort.
Daraufhin ging sie in den Park und warf einen Blick in
das Baumhaus. Als er auch dort nicht zu finden war, kam sie auf den Gedanken,
Mrs. Moorefield nach Eric zu fragen.
Vielleicht war er bei ihr?
Das würde sie nicht wundern.
Joan Berry hatte mit dem Gedanken gespielt, Mrs.
Moorefield an diesem Tag zum Kaffee einzuladen, aber sie kannte die Besucherin
noch zu wenig, um zu wissen, wie sie ihre Zeit einteilte. Die junge Frau stieg
die Treppe zum ersten Stock hoch. Sie lächelte still vor sich hin, als sie
daran dachte, wie sehr sie es anfangs interessiert hatte, mal einen Blick in
diese verschlossene Wohnung zu werfen.
Als Joan nach oben kam, war die Tür spaltbreit geöffnet.
»Eric?« rief die Frau laut und deutlich, aber niemand
antwortete.
Sie klopfte an, drückte die Tür ein wenig weiter nach
innen und blickte in den dunklen Korridor.
Ein Geruch von Kräutern stieg in ihre Nase. Offenbar war
Mrs. Moorefield dabei, ihr Mittagessen zu bereiten. Als nach zweimaligem Rufen
immer noch niemand antwortete, passierte Joan den Korridor. Die Tür zum
Wohnzimmer stand offen.
Von hier aus waren die Bibliothek, ein kleiner, separater
Raum und der große Balkon zu erreichen.
Auf der anderen Seite des Korridors befand sich die
Küche.
»Mrs. Moorefield?« Joan Berry war es, als hätte sie vom
Balkon her ein Geräusch vernommen.
Als sie im Wohnzimmer stand, fiel ihr Blick in das
düstere Zimmer, in dem es nur ein winziges Fenster gab. Zudem war der Vorhang
vorgezogen. Eine altmodische Stehlampe mit einem Pergamentschirm brannte, und
der schwache rötlichgelbe Schein beleuchtete die Szene.
Eric stand vor einem großen Wandregal, in dem eine Puppe
neben der anderen saß. Mrs. Moorefield stand neben dem Jungen, hatte ihren
linken Arm um die kleinen schmalen Schultern gelegt und beugte sich ein wenig
zu ihm herab. Mit leiser, ruhiger Stimme erklärte sie ihm, was es auf dem alten
Regal alles zu sehen gab.
»… sind alle sehr wertvoll. Einige sind schon zweihundert
Jahre alt. Meine Vorfahren haben schon mit dieser Arbeit angefangen.«
»Warum müssen die Puppen immer in diesem dunklen Zimmer
stehen, Grandma Moorefield?« fragte der Kleine.
»Das Licht könnte ihnen Schaden zufügen, verstehst du?
Das Gewebe ist schon brüchig. Einige Puppen sollte man gar nicht mehr anfassen.
Außer den neuen natürlich, die ich angefangen habe zu machen, die darf man noch
anfassen …« Mit diesen Worten streckte Mrs. Moorefield die Rechte aus und nahm
vom untersten Bord eine etwa dreißig Zentimeter hohe Figur.
Es war eine Stoffpuppe. Sie stellte eine junge, blühende
Frau dar, mit feinen, edlen Gesichtszügen. Sie trug ein luftiges, blaues,
durchbrochenes Sommerkleid, in der Hand hielt sie einen kleinen Strauß von
Wiesenblumen. Jedes Detail war mit großer Liebe nachgebildet.
Joan Berry hielt den Atem an, als sie sah, wie Eric die
kleine, menschenähnliche Puppe vorsichtig in seinen Händen drehte.
Dann räusperte sich die junge Frau. »Mrs. Moorefield?«
Die alte Dame gab einen leisen Aufschrei von sich.
»Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen, Mrs.
Moorefield.
Ich hatte ein paarmal gerufen. Aber niemand hörte mich.
Die Tür draußen stand offen …«
»Aber so treten Sie doch näher!« Mrs. Moorefield zog Joan
förmlich in den kleinen Raum hinein, der ihre kostbare Sammlung enthielt. »Wenn
Sie schon da sind, müssen Sie auch meine Puppen ansehen. Sind sie nicht schön?«
Sie war ganz aufgeregt. Und erst jetzt kam sie dazu, sich
dafür zu entschuldigen, daß sie das Rufen nicht gehört hatte.
»Wir waren sehr miteinander beschäftigt. Eric hatte so
viele Fragen und da …«
»Schon gut, Mrs. Moorefield. Ich habe nichts dagegen,
wenn er Sie besucht. Aber Sie müssen verstehen, daß ich wissen will, wo er sich
aufhält. Ich habe mir Sorgen gemacht. Er kann das Tor öffnen und auf die Straße
hinausrennen. Im Handumdrehen ist etwas passiert.«
Rasch war der Vorfall vergessen. Im dämmrigen Licht hatte
Joan Berry Gelegenheit, die kleinen kostbaren Kunstwerke zu besichtigen. Die
Gesichter der Puppen waren mit großem Können gestaltet. »Die Köpfe sind aus
Ton«, sagte Mrs.
Moorefield erklärend, und dann zuckte sie die Achseln,
als müsse sie sich dafür entschuldigen, daß sie ein so ausgefallenes Hobby
hatte.
»Der eine sammelt Briefmarken, der andere Schallplatten oder
Münzen, alte Stiche und Grafiken. Ich habe mich
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