0570 - Vampirpest
verändert hatte.
Bis auf das bleiche Gesicht und die dunklen Flecken am Hals, die Beate erst jetzt sah und sie auch noch auf dem Leder der Jacke entdeckte.
Er ging auf sie zu. Durchquerte den Lichtstreifen der Lampe, die auch seinen Hals anleuchtete, so daß Beate die Flecken besser erkennen konnte.
Sie waren rot.
Rot wie Blut…
Er lachte in dem sicheren Bewußtsein, daß ihm nichts mehr passieren konnte.
Das Mädchen sah die ganze Wahrheit.
Zwei Zähne, die aus dem Oberkiefer wuchsen und an gelbliche Dolchspitzen erinnerten.
Beate war zwar noch jung, aber sie wußte genau, wie ein Vampir aussah. Im Karneval war sie selbst einmal in diese Rolle geschlüpft.
Aber nicht ihr Bruder. Der hatte bestimmt kein falsches Gebiß.
Diese Zähne bei ihm waren echt…
***
Beate Schneider wußte überhaupt nicht mehr, was sie sagen oder tun sollte. Sie konnte nur auf das Gesicht ihres Bruders starren, der seine Lippen noch weiter zurückschob, damit Beate die beiden Vampirzähne genauer betrachten konnte.
Das Kind spürte die Kälte auf ihrem Rücken. Alles fror dort langsam ein. Beate wußte nicht mehr, was sie noch unternehmen sollte, dieser Mann vor ihr war nicht mehr ihr Bruder. Eine bleiche Bestie mit spitzen Zähnen, die nur noch einen Drang hatte.
Vampire saugen Blut!
Auch das wußte Beate. In der Klasse wurde oft genug darüber gesprochen, auch im Fernsehen liefen die Gruselfilme, in denen Vampire eine Hauptrolle spielten.
Jetzt war einer in der Küche, ausgerechnet noch ihr eigener Bruder. Das wollte nicht in Beates Kopf, obwohl sie den Tatsachen nicht mehr ausweichen konnte.
Sie hatte den Eindruck, als würde das Gesicht ihres Bruders nur noch aus einem Maul bestehen, so weit hatte er seinen Mund aufgerissen. Die Augen standen ebenfalls weit offen, waren verdreht, so daß sie einen irren Blick abgaben.
Weit zurück konnte das Mädchen nicht mehr. Beate spürte aber noch immer den harten Druck der Klinke. Das war für sie so etwas wie ein Zeichen, erinnerte sie an die Tür, die sie öffnen mußte, um zu verschwinden.
Durch das offenstehende Fenster drangen Nebelwolken in die Küche, die sich zwischen den Wänden verteilten und die Atmosphäre noch unheimlicher erscheinen ließen.
Wie bleiche, lange Arme erreichten sie auch den Vampir und umschlossen ihn lautlos.
Er ging weiter. Die Küche war relativ lang, dafür schmal. Frau Schneider bezeichnete sie stets als einen Schlauch, in dem man nichts richtig stellen konnte.
Jeder Schritt war zu hören. Holger setzte seinen Fuß bewußt hart auf, so daß auch die entsprechenden Echos entstanden. Er ließ seinen Unterkiefer zucken, produzierte Geräusche, die sich anhörten wie ein fürchterliches Schlürfen und Beate eine noch größere Furcht einjagten.
Die Tür. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er durfte nicht einen Schritt näher kommen, dann würde sie es nicht schaffen. Das elfjährige Mädchen handelte instinktiv, als es sich herumdrehte, mit der Hand auf die Klinke drosch und die Tür aufriß.
Da sprang der Blutsauger!
Er hätte sie erwischt, doch diesmal besaß Beate einen großen Vorteil. Sie war klein, zierlich und ungemein gewandt. Wie eine Tänzerin drehte sie sich in die Lücke hinein und huschte in den Flur, während der Blutsauger vor die Tür prallte und sie wieder ins Schloß drückte.
Im Flur packte das Kind die Panik. Beate überlegte eine Sekunde zu lange, bevor sie sich entschloß, auf die Haustür zuzurennen.
Er war da.
Fauchend wirbelte er aus der Küche. Die Tür wurde von ihm so heftig aufgestoßen, daß sie gegen die Wand und von ihr wieder zurückprallte. Beate wußte, daß sie den Ausgang nicht erreichen würde. Sie schnappte sich einen in der Nähe stehenden Regenschirm und schleuderte ihn ihrem veränderten Bruder entgegen.
Der schaffte es nicht mehr, sich zu ducken. Der Schirm krachte mit der Krücke vor sein Gesicht.
Mit einem wütenden Knurren schleuderte er ihn weg und hetzte auf Beate zu.
Schreiend näherte sie sich der Tür.
Holger war schneller. Seine Hände waren wie Pranken, die gegen Beates Schulter hämmerten, sie für einen Moment festhielten, bevor er das Mädchen in die entgegengesetzte Richtung warf, wo es gegen die Garderobe und die dort hängenden Kleidungsstücke prallte. Sie krallte sich an einem Mantel fest, riß durch den Druck den Aufhänger ab, so daß der Mantel fiel und das Mädchen unter sich begrub.
Beate wollte sich befreien.
Das brauchte sie nicht, denn ihr Bruder war schneller.
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