0571 - Die Legende vom grauen Riesen
schwarze Mamba, glaube ich.«
»Hat die Schlange Sie gebissen?«
»Nein, das passierte nicht. Das Tier ließ mich in Ruhe. Keinen Biß, nichts. Sie ist an meiner Haut hochgeglitten, das wohl.« Noch im nachhinein schauderte sie zusammen. »Es war ein Gefühl, das ich kaum beschreiben kann.«
»Das glaube ich Ihnen gern.« Ich stopfte mir eine dünne Scheibe Käse in den Mund. »Jetzt sind wir hier, Lucy, wir beide und die anderen. Weshalb fahren Sie?«
»Weil ich es muß.«
»Wieso?«
»Das ist ganz einfach. Der Traum wurde dermaßen stark, daß ich die Insel einfach besuchen muß. Ich glaube, es ist auch in Dr. Wards Sinne. Meinen Sie nicht auch?«
»Kann sein, Lucy, ich habe ihn danach nicht gefragt. Was werden Sie auf der Insel tun?«
»Ihn suchen.«
»Wen?«
»Den grauen Riesen aus dem Traum. Ich werde ihn suchen und auch finden. Ich muß einfach zu ihm. Es ist der wahnsinnige Drang, der mich auf die Insel bringt.« Sie räusperte sich. »Sie doch auch, John? Oder irre ich mich da?«
»Nein, Sie irren sich nicht. Ich will die Insel auch besuchen, um den Riesen zu sehen. Allerdings denke ich darüber nach, wie wir wieder wegkommen?«
»Ja«, murmelte sie. »Das ist eine Sache. Falls wir überhaupt davon wegkommen.«
»Wie meinen Sie das?«
»John.« Sie trat wieder dicht an mich heran. »Erinnern Sie sich daran, wie Ihr Traum endete. Denken Sie an den Schlund des Riesen. Sie kamen nicht mehr zurück. Sie sind verschluckt worden. Haben Sie das vergessen?«
»Nein.«
»Es war der Tod!« sprach sie weiter. »Und diese Reise ist der Anfang vom Ende.«
»Im Traum«, wiegelte ich ab.
»Der für uns Wirklichkeit werden wird, wenn wir erst die Insel erreicht haben. Sie heißt Celtic Island, die Kelten-Insel. Dort ist alles anders, glauben Sie mir.«
»Was ist anders?«
»Der Riese beeinflußt die Träume, John. Er ist uralt, das weiß ich alles. Sie haben ihn vor Jahrtausenden schon angebetet, als noch alles anders war.«
»Ist das nicht etwas übertrieben?«
»Vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Was spielt das für eine Rolle? Wichtig ist, daß es ihn gibt. Und daß es ihn gibt, davon bin ich überzeugt. Wir haben ihn gesehen, zwar nur im Traum, doch ich glaube daran, daß es ihn auch in Wirklichkeit gibt.«
Widersprechen wollte ich nicht. Außerdem kehrte der Stewart mit frisch aufgebrühtem Kaffee zurück. »Wenn Sie Tee haben möchten, müssen Sie sich ein wenig gedulden.«
»Danke, der Kaffee reicht.«
Er hatte die braune Brühe in eine schlanke Warmhaltekanne gefüllt, was uns sehr entgegenkam. Ich nahm ihm die Kanne ab und drückte ihm noch ein Trinkgeld in die Hand.
»O danke.«
»Wir nehmen ihn in den Kabinen zu uns.«
»Wie Sie wünschen.«
Lucy Freeman hatte sich mit zwei Tassen bewaffnet und noch etwas Käse mitgenommen. Sie balancierte das Porzellan durch den Kabinengang. Die Wellen liefen manchmal quer an, was das Schiff etwas schlingern ließ. So war es noch schwerer, das Gleichgewicht zu halten.
»Schaffen Sie es, Lucy?«
»Ja, natürlich. Ich schlage vor, daß wir in meine Kabine, gehen.«
»Dagegen habe ich nichts.«
Ich wußte, wo sie wohnte, drückte die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Die Einrichtung dieser Kabine unterschied sich in nichts von der meinen.
Lucy stellte die Tassen ab, und ich schenkte den Kaffee ein. »Jetzt haben wir Milch und Zucker vergessen.«
»Ich trinke ihn schwarz, John.«
»Ebenfalls.«
Lucy nahm auf dem Bett Platz, ich ließ mich in den schmalen Sessel sinken. Sie hob ihre Tasse. Ein verloren wirkendes Lächeln umspielte dabei die Mundwinkel der Frau. »Worauf sollen wir trinken?« fragte sie. »Auf unsere Zukunft?«
»Sicher.«
»Haben wir denn eine?«
Ich nickte heftig. »Davon gehe ich doch aus, Lucy. Ich sehe die Sache ganz anders.«
»Dann sind Sie glücklicher dran als ich, John.«
»Lucy, Sie sollten nicht so pessimistisch sein. Darf ich Ihnen ehrlich etwas sagen?«
»Klar!«
»Sie kommen wir vor wie jemand, der bereits mit dem Leben abgeschlossen hat.«
Plötzlich lachte sie. Nur war es kein echtes Lachen, dafür ein sehr bitteres. »Wenn ich ehrlich sein soll, muß ich Ihnen antworten, daß ich mich auch so fühle. Die Träume haben mich fertiggemacht. Etwas soll mit uns geschehen…«
»Haben Sie schon mit Menschen gesprochen, die auf der Insel waren und wieder zurückgekehrt sind?«
»Gibt es die denn?«
Ich schaute sie aus großen Augen an. »Was soll das heißen? Glauben Sie etwa, daß jeder, der die Insel
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