0573 - Der uralte Henker
vernommen. Keiner von ihnen wagte einen Widerspruch. Die Männer waren es einfach gewohnt, zu gehorchen.
Bernardo schaute noch immer gegen das dunkle Holz. Sollte er – sollte er nicht?
Er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Furchtbare Dinge waren geschehen, er fühlte sich daran schuldig. Wenn er jetzt den Rahmen sprengte, würden sie ihn nicht mehr in die Gemeinschaft aufnehmen.
Von Zweifeln geplagt, drehte sich der Mönch um. Er hörte die Schritte näher kommen. Allein am Klang erkannte er, daß es Ricardo war, der auf ihn zueilte.
Sein starres Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er legte Bernardo eine Hand auf die Schulter. »Es ist gut, mein Sohn, daß du dich entschlossen hast, bei uns zu bleiben. Nur hier seid ihr sicher, versteht ihr das?«
»Ja, das verstehe ich.«
»Dann laß es gut sein.« Ricardo wollte abdrehen, aber Bernardo war etwas aufgefallen.
»Einen Moment noch, Bruder. Du hast vorhin gesagt, daß wir uns sicher fühlen. Zählst du dich nicht dazu?«
»Ja und nein.«
»Wie sollen wir das verstehen?«
»Ich werde euch verlassen«, sprach der Abt in die Kapelle hinein, damit es jeder hören konnte. »Ich trage für dieses Kloster die Verantwortung, deshalb kann ich es nicht zulassen, daß andere Kräfte von ihm Besitz ergreifen. Ich werde mit ihnen kämpfen.«
»Denk an Bruder Clermont. Er ist gestorben, als er sich den Mächten entgegenstemmte. Willst du, daß dir das gleiche Schicksal blüht?«
»Nein, es wird mir nicht so ergehen!« erwiderte Ricardo hart.
»Bruder Clermont war nicht vorbereitet, im Gegensatz zu mir. Ich bin es, denn ich weiß nun, was auf mich zukommen wird. Deshalb gehe ich und folge ihnen. Es ist meine Pflicht als Abt dieses Klosters.«
Die Mönche versuchten zwar noch einen Widerspruch, aber der Mann ließ sich nicht überzeugen.
Er ging.
Den normalen Ausgang nahm er nicht. Die Kapelle besaß hinter dem Altar noch eine schmale Schlupftür, durch die sich ein Mensch schieben konnte, wenn er sich duckte.
Der Abt erreichte die Tür und schloß sie auf. Ein Lächeln glitt dabei über sein Gesicht. Er besaß den Schlüssel, er kam überall hin, wenn er wollte.
Es war ein gefährlicher Weg, den er sich vorgenommen hatte.
Schon bei Tageslicht nicht einfach zu gehen, in der Dunkelheit aber mußte derjenige den Pfad genau kennen.
Ricardo gehörte dazu. Er schloß die Tür wieder ab und drehte sich nach links. Im direkten Schatten der Kapellenmauer ging er weiter.
Rechts von ihm befand sich nur mehr ein schmaler Pfad, hinter dem das Gelände zwar nicht senkrecht, aber dennoch steil abfiel. Wer diesen Hang hinabrutschte, konnte es kaum schaffen, sich zu halten.
Der rollte zumeist bis zum Ende durch.
Eine Stelle jedoch gab es, die begehbar war, und genau die fand Ricardo mit traumwandlerischer Sicherheit. Mit der linken Hand stützte er sich an der Außenwand der Kapelle ab, das rechte Bein winkelte er ebenfalls ab und prüfte nach, wie hart der Rand des Abgrunds war.
Er hielt sein Gewicht.
Ricardo ging in die Hocke. Mit beiden Händen tastete er so lange, bis er die Lücke gefunden hatte.
Ein knappes Lächeln huschte über sein Gesicht, dann spürte er die weiche Erde des schmalen Pfads unter seiner Hacke.
Die ersten Meter waren am schlimmsten, denn dort war der Hang am steilsten. Später würde es flacher verlaufen. Ein aus der Erde aufragendes Wurzelwerk hatte es geschafft, so etwas wie eine natürliche Treppe zu bilden. Mit der Hacke stemmte sich der Mönch dagegen, so daß er die Gefahr des Ausrutschens verringerte.
Er lief den Weg nicht zum erstenmal. Der Boden war zwar weich, aber nicht feucht.
Längst waren über dem Abt die Umrisse der Kapelle verschwunden. Wenn er hochschaute, sah er nur den dunklen Himmel. Klar und sternenübersät. Dazwischen der Mond als »verbeultes« Auge.
Ricardo kletterte weiter, benutzte Wurzeln und Zweige als Hilfsmittel.
Und so kam er weiter, bis er endlich sein Ziel erreichte. Es lag in einer kleinen Mulde, die praktisch zwei Hänge als Schüssel miteinander verband.
Aus der Mulde hervor wuchs ein in der Dunkelheit gespenstisch aussehender Gegenstand.
Ein uralter Baum…
Der Stamm konnte kaum von einem Mann umfaßt werden. Darüber breitete sich fächerartig das knorrige Astwerk aus. Die Eiche hatte bereits ihre Jahrhunderte auf dem Buckel, aber sie war für denjenigen, der sie sich als Ziel ausgesucht hatte, ungemein wichtig.
Dicht vor dem Stamm blieb Ricardo stehen. Er wollte den Geruch in sich
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