0573 - Der uralte Henker
Schatten, ein Wechselspiel aus Licht und Dunkelheit.
Wirklich Schatten?
Ich dachte sofort an den Spuk, den Herrscher im Reich der Schatten. Sollte er es geschafft haben, in die Kirche einzudringen?
Die ersten Flammen verlöschten. Sie überraschten mich, ich konzentrierte mich auf die noch brennenden und sah über jeder Flamme einen hauchdünnen, grauschwarzen Schleier.
Jetzt hatte ich die Lösung.
Es war tatsächlich der Spuk, der es geschafft hatte, in die Kapelle einzudringen.
Schließlich brannten nur mehr zwei Kerzen. Es waren die beiden, die das Kreuz auf dem schmucklosen Altar einrahmten.
Sekunden später erschienen auch über diesen beiden Feuerzungen die dunkelgrauen Wolken, senkten sich nieder und brachten das Licht zum Erlöschen.
Dunkelheit legt sich über die Kapelle. Nur mehr hinter den Fenstern schimmerte es heller, als sollte uns von dort ein Licht der Hoffnung erreichen.
Die ersten Mönche drehten sich zu mir um. Es waren die in den hinteren Reihen.
Sie schauten mich an.
Stumm – vorwurfsvoll?
So genau konnte ich es im fahlen Dämmer nicht erkennen. Jedenfalls fühlte ich mich unwohl.
Bruder Ricardo begann zu sprechen. »Du bist in unsere Kapelle gekommen, John. Wir freuen uns immer darüber, wenn wir Gäste bei uns haben, die zum Tisch des Herrn gehen. Aber in diesem Fall war es keine gute Idee. Hast du die Schatten gelockt? Sind sie nur erschienen, weil du da bist, John?«
»Nein!« rief Bernardo. »Das kannst du nicht sagen, Bruder Ricardo. Es ist nicht so!«
»Wie denn?«
»Anders. Der Henker… er war schon da, bevor wir mit unserer Andacht begannen. Wir haben ihn auf dem Turm der Kapelle gesehen. Er stand dort und winkte mit seinem Schwert zu uns herüber. Dabei lauschte er dem Läuten der Glocke.«
Ricardo war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Was will er von uns? Du hast uns einen Teil seiner Geschichte erzählt, daß er vor Hunderten von Jahren sein Schwert geschwungen, gerichtet und getötet hat. Damals gab es dieses Kloster noch nicht. Weshalb ist er gerade hierhergekommen? Wir haben nichts mit ihm zu tun!«
»Ich weiß es nicht, Bruder Ricardo. Er hat bei euch am Tisch gestanden, du hättest ihn fragen sollen.«
»Sehr richtig, Bruder«, erwiderte Ricardo nach einer Pause des Nachdenkens. »Ich habe es nicht getan, aber wir müssen uns ihm stellen. Wir können es nicht zulassen, daß er unser Kloster zu einem Hort der Finsternis macht.«
Ich griff in den Dialog ein. »Das stimmt, Ricardo. Ich gebe dir recht. Dieses Kloster muß ein Ort des Gebetes und der Besinnung bleiben. Aber nicht ihr werdet ihm gegenübertreten, denn ich bin neben dem Henker in diesem Spiel die Hauptperson. Er hat mich zu euch gelockt, denn er will etwas Bestimmtes von mir. Deshalb gehe ich zu ihm, ich werde ihn suchen und ihn fragen.«
»Er wird dich köpfen!« schrie Bernardo.
»Vielleicht versucht er es, das will ich nicht abstreiten. Doch ich weiß mich sehr wohl zu wehren, glaub es mir. Ich möchte euch, meine Freunde, nur um einen Gefallen bitten. Wenn ich die Kapelle verlasse, möchte ich, daß ihr bleibt.«
»Und wenn du nicht zurückkommst?« rief Bernardo. Er drängte zwei Mönche zur Seite und kam auf mich zu.
»Keine Sorge, ich werde…«
»Dein Schicksal liegt in der Hand des Allmächtigen, John Sinclair.«
Er tauchte dicht vor mir auf, und ich konnte in sein von Zweifeln geprägtes Gesicht schauen.
»Das weiß ich, Bernardo. Wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann betet.«
Er schaute mich an. »Ja, das werden wir«, erwiderte er. »Und ich weiß jetzt auch, daß wir dich nicht zurückhalten können. Du mußt einfach gehen, John.«
»Natürlich.« Ich nickte und lächelte dabei. Längst hatte ich gespürt, daß die Zeit reif war. Ich konnte zwar nicht durch Mauern schauen, doch ich wußte auf einmal, daß der Henker draußen vor der Kirche auf mich wartete.
»Auf Wiedersehen, mein Freund Bernardo.«
»Gott behüte dich, John!« flüsterte er.
Ich drehte mich um und ließ die Mönche hinter mir zurück.
Schweigende Männer, im Innern voller Zweifel. Auch ich war nicht so mutig, wie ich mich gezeigt hatte. Ich zweifelte ebenfalls daran, ob es tatsächlich der richtige Weg gewesen war.
Die Tür knarrte, als ich sie aufzog. Frischer Wind fuhr in mein Gesicht. Tief holte ich Luft, drückte mich durch den Spalt der halb geöffneten Tür und trat ins Freie.
Vor der Kapelle war der Boden mit Steinen belegt. Sie schauten unterschiedlich hoch aus dem Untergrund hervor.
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