0573 - Der uralte Henker
Menschen warteten seit Wochen vergebens auf den Regen.
Selbst im Vatikan war der Papst unruhig geworden und hatte einen Erlaß herausgegeben, damit die Gläubigen in den Kirchen den Herrgott bitten, endlich Regen zu schicken.
In zahlreichen Gotteshäusern Italiens kam man diesem Wunsch nach. Auch im Dom zu Mailand, diesem gewaltigen prächtigen Bauwerk, das an diesem Sonntag ebenfalls vom Licht der fahlen Wintersonne gebadet und nicht durch Dunstschleier umflort wurde.
Er war gut besucht. Die Menschen besannen sich; sie hatten plötzlich bemerkt, wie abhängig sie doch von gewissen Dingen waren.
Das Wasser war so wichtig. Ohne Wasser lief nichts. Deshalb beteten sie zum Herrgott, daß er ihnen den Regen schicken sollte.
Doch der Himmel blieb klar. Zwar brachte die polare Kaltluft aus dem Norden Niederschläge mit, doch die erreichten die Po-Ebene leider nicht.
Mächtiger Orgelklang erfüllte das Innere des Doms. In ihn hineinbrausend die Stimmen der Gläubigen, vereint im Gesang.
Zu denen, die diesen Gottesdienst nicht besuchten, weil sie schon kurz nach dem Wecken in der Kirche gewesen waren, gehörten zwei Mönche.
Einer, in mittleren Jahren, hieß Pater Bernardo. Der andere, der praktisch sein Ziehvater und Lehrer gewesen war, jetzt aber, im hohen Alter, nicht mehr die Kraft hatte, die Lehren weiterzugeben. Der alte Mönch lebte inmitten des Domkomplexes und wurde von seinen Brüdern gepflegt – bis zum Tode. So sah es die Vereinbarung vor, denn die Kirche ließ niemand fallen, der einmal treu zu ihr gestanden hatte.
Der alte Padre lebte in einem kleinen Zimmer, das kaum größer als eine Mönchszelle war. Das hohe Alter hatte seine Sehkraft so stark geschwächt, daß er auch mit einer starken Brille kein Buch mehr lesen konnte. Er sah seine Umwelt nur mehr verschwommen, aber er wußte genau, daß es Bernardo war, der die Tür öffnete, um seinem Lehrmeister einen Besuch abzustatten.
Der alte Mönch saß neben seinem Bett. Er schaute zum Fenster, wo der Schein der Sonne seinen Weg fand und ihm das Gesicht wärmte.
»Du bist es, mein Freund«, sagte er, »bitte, komm her zu mir und setz dich.«
»Danke, Francesco.«
Bernardo nahm Platz. Beide schwiegen. Vom Dom her hörten sie das Läuten der Glocke.
»Jetzt ist die Wandlung!« flüsterte der alte Mann. »Wo sind die Zeiten geblieben, als ich noch eine Heilige Messe leiten durfte?«
»Andere haben die Aufgabe übernommen.«
»Ja, Bernardo, ja, Das ist auch gut so. Die Kirche kann nicht zerstört werden, auch wenn sich der Teufel noch so sehr darum bemüht. Mailand ist nicht Turin, hier steht ihm als Bollwerk unser prächtiger Dom im Wege. Daran kommt er nicht vorbei.«
»Weshalb sagst du mir das gerade jetzt, mein alter Freund?«
Im Gegensatz zu den Augen war das Gehör des Padre noch vollkommen in Ordnung. So hatte er auch die leise gesprochene Frage verstanden.
»Weil ich Schlimmes befürchte. Ich kann nicht mehr gut sehen, aber ich kann es fühlen. Es kommt etwas über uns. Der Teufel ist erstarkt. In Turin gibt es viele Menschen, die ihn bereits anbeten, die ihm huldigen, die ihm dienen. Ich weiß es, denn er will hier, im Mutterland unseres Glaubens, Einfluß gewinnen.«
»Kann er das denn?«
»Ich weiß es nicht, aber es ist gefährlich. Etwas wird uns erreichen, Bernardo, glaub es mir.«
Der Jüngere lächelte. So ganz traute er den Worten seines Ziehvaters nicht. Er gehörte zu den Menschen, die die Welt sahen, wie sie war. Bernardo war ein hochaufgeschossener Mann mit pechschwarzen Haaren, die er gescheitelt trug. Sein Gesicht hatte einen freundlichen, friedlichen Ausdruck, aber die dunkelbraunen Augen blickten hellwach und sehr klar. Ihm konnte man so leicht nichts vormachen.
»Denkst du über meine Worte nach, Bernardo?«
»Ja, das tue ich.«
»Es ist gut. Nimm einen Rat von deinem Lehrmeister trotz allem an. Du solltest dich nach Turin begeben und dem Teufel das Kreuz zeigen. Sorg dafür, daß die dekadente Geldgesellschaft sich wieder auf die alten Werte besinnt und nicht den Höllenkräften zu Diensten ist. Wenn du das schaffst, hast du der Menschheit einen großen Dienst erwiesen. Danach müßtest du streben.«
»Ich weiß es Francesco, aber du kennst die Schwierigkeiten. Ich kann nicht einfach mein Bündel packen und nach Turin gehen. Ich müßte einen Auftrag erhalten.«
»Dann überzeuge deinen Abt, daß er dich schickt. Es hängt viel davon ab. Sieh du zu, daß du Schicksal spielen kannst. Man wird dir dankbar
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