058 - Der Duft von Sandelholz
und sich auf seinem Zimmer erholen.
Sie hoffte, dass es ihm richtig schlecht ging. Er verdiente es.
Es dauerte nicht lange, bis Lily den hohen Eisenzaun erreichte, der Edwards Anwesen umgab. Sie entdeckte eine Stelle mit viel Gebüsch, in dem sie ihr Pferd verbergen konnte. Dort band sie es an einem der Querstreben des Zauns an.
Anschließend stieg sie wieder auf das Pferd, stellte sich auf den Sattel und kletterte vorsichtig über die schmiedeeisernen Spitzen der Umfriedung.
Nach einem kleinen Sprung befand sie sich auf Edwards Anwesen. Sie strich sich die Röcke glatt und begann mit klopfendem Herzen auf das Haus zuzugehen.
Da sowohl der Hausherr als auch seine Mutter fort waren, schienen die Dienstboten ihren täglichen Aufgaben in gemächlicherem Tempo nachzugehen. Denn statt des üblichen Treibens herrschte vor dem Gebäude Stille.
Beim Näherkommen sah sie einige von Edwards Helfershelfern an der Stallwand herumlungern. Sie rauchten und spielten Karten. Die Männer bemerkten sie nicht.
Lily umging einen großen blühenden Busch und begab sich zu einer Tür, von der sie wusste, dass sie vermutlich nicht verschlossen war. Die Tür zum Gewächshaus, die auf die Gartenterrasse hinausführte, stand gewöhnlich offen, da es im Sommer unter dem Glas zu heiß wurde. Mrs. Lundv hatte sich mehrmals darüber beschwert, dass die Hitze sich im ganzen Gebäude ausbreitete.
Tatsächlich konnte sie, sobald sie die Terrasse erreicht hatte, in das Kaldarium hineinschlüpfen. Als ein Hausmädchen vorbeieilte, verbarg sie sich hinter einer riesigen Pflanze. Das Dienstmädchen hastete in Richtung Küche. Lily wartete und lauschte, bis sie sicher sein konnte, dass es fort war.
Danach schlich sie leise durch die große Halle, wo zwei weitere Mädchen sich beim Abstauben unterhielten und kichernd darüber sprachen, welcher der Diener am besten aussah. Lily durchquerte nun auf Zehenspitzen den glanzvollen Speisesaal und bog in denselben stillen Korridor ein, in den sie Derek während der Gartenparty gefolgt war.
Nun, da sie wusste, was er an jenem Tag tatsächlich vorgehabt hatte, war sie beeindruckt, zu sehen, wie weit er gekommen war, ehe sie ihn gestört hatte.
Edwards Arbeitszimmer lag am Ende des Ganges. Sie sah die geschlossene Tür. Aber dann unterdrückte sie einen Aufschrei und zog sich rasch hinter den Vorhang eines Alkovens zurück, als einer von Edwards finster aussehenden Gehilfen auftauchte.
Sie vermutete, dass es sich um Mr. Bates handelte.
Lily presste sich an die Wand, und ihr Herz klopfte wie wild. Vielleicht war dieses ganze Unternehmen nur ein verrückter Einfall von ihr - aber jetzt war es zu spät, um umzukehren. Ihr Ziel war in Reichweite, nur ein paar Schritte entfernt.
Sie spähte aus dem Alkoven vorsichtig hervor und sah, dass Bates weitergegangen war.
Dann verließ sie ihr Versteck und huschte an dem Salon vorbei, in dem Derek so wunderbare Dinge mit ihr gemacht hatte. Unwillkürlich überlief sie ein wohliger Schauer, als sie sich daran erinnerte. Aber sie bemühte sich, nicht daran zu denken, sondern weiter ihr Vorhaben zu verfolgen. Ohne zu zögern bewegte sie sich vorwärts, ihre Schritte waren auf dem gewachs-ten Boden kaum zu hören. Endlich hatte sie die Tür zu Edwards Arbeitszimmer erreicht. Behutsam öffnete sie diese und linste durch einen Spalt ins Zimmer.
Leer.
Ihre Röcke wirbelten um sie herum, als sie hineinhuschte, die Tür hinter sich zuzog und abschloss. Sie legte eine Hand auf ihre Brust und seufzte erleichtert. Dabei klopfte ihr Herz so laut, dass sie sich wunderte, warum es nicht das gesamte Personal alarmierte. Der Einzige, der zu bemerken schien, dass etwas nicht stimmte, war Edwards wilder Wachhund Brutus. Sie hörte das Tier bellen.
Aber abgesehen von einem lauten, ungeduldigen „Sei still!", schien niemand dem Beachtung zu schenken. Nun, der ständige Lärm des Höllenhunds war nichts Ungewöhnliches. Lily war nur froh, dass sie Brutus niemals aus seinem Käfig ließen.
Wenn er die von ihm gejagten Kaninchen innerhalb kürzester Zeit töten konnte, dann wollte sie nicht gern sehen, was er einem Menschen anzutun vermochte.
Sie vergeudete keine Zeit damit, sich mit dieser wenig erfreulichen Frage zu beschäftigen. Die schweren Samtvorhänge vor den Fenstern tauchten den Raum trotz des strahlenden Sonnenscheins in dämmeriges Zwielicht. Aber es war hell genug, um ihre Durchsuchungsaktion durchzuführen. Sie sah sich in dem staubigen, mit Eiche vertäfeltem Zimmer
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