058 - Der Duft von Sandelholz
bestechen, damit er Derek aus England hinausschmuggelte. Es hörte sich an, als wäre die Zusammenkunft beendet.
Lily hielt das zerrissene Mieder zusammen, ging vom Fenster weg und trat in die Mitte des Zimmers, fest entschlossen, ihrem Schicksal hoch erhobenen Hauptes entgegenzutreten. Sie würde sich nicht an die Wand pressen lassen und sich verstecken. Sie war eine Balfour. Sie würde diesem Halunken nicht die Freude bereiten, sich vor ihm zu beugen.
Vielleicht hatte Dereks kühner Mut während der Schläge, die er von mehreren Männern erhalten hatte, sie dazu veranlasst, nicht kampflos aufzugeben. Sie hörte, wie der Schlüssel in das Schloss geschoben wurde. Und sie bemühte sich nach Kräften, einen beunruhigenden Anflug von Grauen zu unterdrücken, bei dem Gedanken an das, was ihr bevorstand.
Aber als die schwere Tür knarrend aufging, war es nicht Edward, der an der Schwelle stand.
Einer seiner ruppigen Untergebenen kam mit einem Tablett herein, auf dem grässlich aussehendes Essen stand. Ihr spätes Nachtmahl. Beinahe war ihr schwindelig vor Erleichterung, und Lily hielt den Kopf gesenkt, während sie darauf wartete, dass ihr Gefängniswärter wieder das Gemach verließ. Sie überlegte, an ihm vorbei und durch die offene Tür hinauszulaufen, aber das wagte sie dann doch nicht.
Wenn sie Schwierigkeiten machte, würde Derek es ausbaden müssen.
Selbst wenn sie durch irgendein Wunder würde fliehen können, bestand zwischen ihr und Edward eine Übereinkunft. Sie wagte es nicht, ihr Wort zu brechen, solange Derek sich in seiner Gewalt befand.
Also blieb sie stehen. Sie vermochte kaum zu atmen, bis der stämmige Diener nicht mehr im Raum war und die Tür von außen absperrte.
Mit geschlossenen Augen atmete sie aus. Gütiger Himmel, das war knapp. Nun, ihrem Schicksal war sie nicht entkommen, Edwards Forderung an sie war nur aufgeschoben.
Wohl wissend, dass ihr einstiger Verehrer bald auftauchen würde, verspürte sie auch keinerlei Appetit auf das Essen, das ihr gebracht worden war, eine abscheulich aussehende Schüssel lauwarmer Erbsensuppe mit einem Schinkenknochen darin, dazu hartes Brot und mit Wasser verdünnten Wein. Sie verzog das Gesicht, deckte das Ganze mit der Serviette zu und trat zum Fenster.
Hinter den schweren Samtvorhängen setzte sie sich auf den eingebauten Fenstersitz und starrte wieder zum Stall hinüber. Als sie den Blick über Edwards Anwesen hinweg weiterschweifen ließ, dachte sie zurück an den Abend des Maskenballs, als sie Derek zum ersten Mal am Gartenpavillon getroffen hatte. Unter dem lächerlichen Ananasdach hatte sie zuerst geglaubt, er wäre eine Gestalt ihrer Fantasie.
Was war nur aus ihnen beiden geworden!
Ach, wenn ich doch noch einmal neu entscheiden könnte, dachte sie mit wachsender Besorgnis. Ich wäre mit ihm in dieser Gondel auf den See hinausgefahren.
Hätte sie gewusst, dass sie sich in ihn verlieben würde, hätte sie sich von ihm an Ort und Stelle ruinieren lassen.
Dereks behelfsmäßige Gefängniszelle war nicht groß genug, als dass er aufrecht stehen konnte. Daher hatten Lundys Helfershelfer ihm eine leere Kiste gegeben, auf der er sitzen konnte.
Als er im Käfig war, hatten sie ihm die Hände lange genug losgebunden, dass er seine Augen mit Wasser ausspülen konnte, nicht ohne ihn zu warnen, dass Lily dafür würde büßen müssen, wenn er sich nicht benahm. Aber kaum hatte er sich das Gesicht gewaschen, wurde er wieder gefesselt.
Er war sich bewusst, in welcher Gefahr sie schwebte, und daher hatte er gehorsam dagestanden und die anderen gewähren lassen.
Jetzt saß er auf der Holzkiste, lehnte sich an die Gitterstäbe zurück, die Beine ausgestreckt, die Handgelenke noch immer auf dem Rücken gefesselt.
Sein Kopf schmerzte von dem Schlag, doch hinter seiner äußeren Ruhe verbarg sich wilder Zorn.
Wenn jemand ihr etwas antat, würde er dafür bezahlen müssen.
Derek war sich bislang nicht sicher, wie das hatte passieren können. Was hatte sich hinter seinem Rücken ereignet? Etwas musste Lundy außer Fassung gebracht haben.
Er hasste die Vorstellung, dass Lily die Information, die er ihr letzte Nacht anvertraut hatte, benutzt haben konnte, um etwas zu tun, was sie besser gelassen hätte. Etwas Unüberlegtes.
Er wusste nur, dass er sie hier herausbringen musste.
Wie?
Nun, er musste sich etwas ausdenken.
Er hatte gehört, dass er nach Indien gebracht werden sollte, aus England herausgeschmuggelt im Frachtraum eines der vielen
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