0582 - Der Totenbaum
also nur noch wenig Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.
Er war durch den jetzt toten Assistenten infiziert worden.
Und der hatte sich mit dem Keim möglicherweise an dem zerbrochenen Probierglas infiziert. Er mußte mit dem Präparat in Kontakt gekommen sein.
»Wenn sich dieser Mann an den Scherben infiziert hat, dann vielleicht noch jemand«, stöhnte er erschrocken auf.
Nicole wurde kreidebleich.
»Der Mann, der sich überraschend früh frei genommen hat - Dr. René Mathieu!«
***
Es war kein Problem, Dr. Mathieu ausfindig zu machen. Schließlich wußte Robin, wo der Pathologe wohnte. Aus dem Gebäude mit der Gerichtsmedizin kamen sie auch schnell genug heraus, bevor die Quarantäne ausgerufen werden konnte. Niemand wollte den Behauptungen des Assistenten so recht Glauben schenken.
Robin setzte das Blaulicht mit dem Magnetfuß aufs Dach seines Citroën XM. Er schaltete die Hupe auf Sirene um. Dann jagte der Wagen durch die Stadt.
Mathieu lebte in einem einfachen Mietshaus am Rande der Stadt.
»Ich dachte immer, Ärzte wohnen in luxuriösen Komfort-Villen und hätten mindestens zwei 600er Mercedes in der Garage«, staunte Nicole. »Und dieser Eindruck bestärkt sich bei mir jeden Monat aufs neue - wenn mir die unverschämt hohen Beitragssätze für die Krankenversicherung vom Konto gebucht werden.«
»Mathieu ist Arzt im Staatsdienst. Da kannst du froh sein, wenn du dir von deinem mageren Salär noch die Marmelade aufs Brot leisten kannst. - Und Chefinspektoren verdienen auch nicht sehr viel mehr«, fügte Robin hinzu.
Die Haustür ließ sich mit leichtem Druck öffnen, und sie eilten die Treppe hinauf.
Mathieus Wohnungstür war nur angelehnt.
Robin wurde mißtrauisch. Nur sehr vorsichtig betrat er die kleine Wohnung und sah sich um.
Zamorra und Nicole folgten ihm, ihre magischen Waffen einsatzbereit.
René Mathieu fanden sie auf dem Balkon.
Dort hatte er Wurzeln geschlagen.
Im wahrsten Sinne des Wortes!
Er bot einen schrecklichen Anblick.
Es war grausam, unvorstellbar.
Mathieu befand sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Verwandlung. Seine Kleidung war überall aufgefetzt und zeigte Rindenhaut, die hier und da schon Blätter trieb.
Aus seinen Füßen drangen Wurzeln hervor, die sich in die Fliesen des Balkons gebohrt hatten. Andere Wurzelfasern ragten aus seinen Händen, die er auf das Geländer gestützt hatte. Sie hatten sich um das von der Sonne erhitzte Eisen gewickelt.
Zamorra fror trotz der Sommerhitze.
So ähnlich würde auch er bald aussehen, wenn es ihm nicht gelang, mit dem düsteren Keim fertig zu werden.
Mathieu war halb Mensch, halb Baum. Und in wenigen Stunden würde er vielleicht ganz Baum sein.
Waren so auch die beiden ersten Opfer ums Leben gekommen?
Vermutlich. Aber wie hatten sie sich infiziert?
Bei Mathieu war es klar. Doch wo hatten sich René Lacroix und Verena Aups, wie das mutmaßliche zweite Opfer heißen sollte, den Keim geholt?
Am Friedhof hatte Zamorra schließlich nichts feststellen können!
Dennoch, dort mußte es seinen Anfang genommen haben.
Der Friedhof befand sich nahe der Rhône.
»Dein Baumdämon, Pierre«, murmelte Zamorra. »Der muß in Friedhof snähe an Land gegangen sein…«
Pierre Robin konnte Zamorras Gedankensprung im Moment nicht nachvollziehen. »Wie bitte?«
Zamorra zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube plötzlich wieder, daß es doch mit unserem vorigen Fall zu tun hat. Um genauer zu sein, mit dem Baumdämon, den du auf der Rhône gesehen hast. Ich hatte schon vorhin, als wir von Loyettes nach Lyon zurückfuhren, einen Plan gefaßt. Den werde ich jetzt etwas erweitern.«
»Was meinst du damit?«
»Sieh und staune«, erwiderte Zamorra.
Er zog sein kleines, aber stabiles Taschenmesser hervor und begann, damit ein wenig von Mathieus Wurzeln abzutrennen. Ein eigenartiges Blätter-Rauschen wurde vernehmbar, und ein knarrender Laut wie von Holz, als wenn man einen dicken Ast biegt, bis dieser droht zu brechen.
»Was soll das?« fragte Robin.
»Du wirst mir sicher nicht gestatten, daß ich den ganzen Mathieu mit zu diesem Friedhof nehme, oder? Also nehme ich nur einen Teil von ihm mit, oder besser einen Teil dieser pflanzlichen Substanz. Ich hoffe, daß das, was ich vorhabe, wirklich funktioniert, und vor allem, daß meine Zeit noch dafür reicht. Wenn nicht, werde ich mich vermutlich demnächst nur noch mit Fooly unterhalten können.«
Fooly, der mit Bäumen reden konnte - es war kaum mehr als Galgenhumor.
Natürlich
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