0588 - AQUARIUS - Dämon aus der Tiefe
Zeit zu verlieren hatten.
»Los!« sagte er und drängte Nicole in Richtung des Felsendurchgangs. »Wir müssen dem Burschen auf den Fersen bleiben. Möglicherweise kriegen wir dann heraus, wer hinter dieser Menschenopferung steckt!«
Nicole nickte. »Alles klar!«
Sie verließen die Bucht und liefen über den Strand hinauf zum Wald. Ein ausgetretener Pfad wand sich durch das Unterholz den Felsen hinauf.
Kurz entschlossen folgten sie dem Weg und erreichten wenig später die Palme, von der aus der Sariträger sie noch vor einer Minute belauert hatte. Von hier führte ein zweiter Trampelpfad tiefer in den Dschungel hinein.
Diesen Weg mußte der Mann genommen haben.
Zamorra und Nicole folgten ihm hastig, bis sie den Inder ungefähr fünfzig Schritte vor sich erspähten. Er schien es nicht sonderlich eilig zu haben. Offenbar war er überzeugt davon, unentdeckt geblieben zu sein.
Oder war er vielleicht nur zufällig auf dem Felsen über der Bucht gewesen, um die Aussicht auf den Ozean zu genießen?
Irgendwie glaubte Zamorra das nicht. Irgend etwas sagte ihm, daß sie auf der richtigen Spur waren. Mit ein wenig Glück würde ihnen dieser Mann helfen, einen Teil des Puzzles zu lösen, das sich ihnen so unerwartet offenbart hatte.
Sie hielten sich immer so weit hinter ihm, daß er sie nicht entdeckte. Zum ersten Mal, seit sie sich in diesen Gefilden herumtrieben, war Zamorra dankbar dafür, daß das Unterholz so dicht war, obwohl sie sich natürlich dadurch sehr vorsichtig bewegen mußten, um nicht durch Geräusche auf sich aufmerksam zu machen.
Sie folgten dem Kuttenträger ungefähr eine halbe Meile in den Urwald. Dann wichen die Bäume und Büsche plötzlich weiter von dem Pfad zurück, und eine Lichtung tauchte vor ihnen aus dem Dickicht auf, die von einem überaus imposanten Gebäude aus rotem Backstein beherrscht wurde. Beiderseits des Portals, das gewaltig genug war, um einem ausgewachsenen Elefantenbullen Platz zu bieten, ragten Säulen empor. Steinerne Löwen mit weit aufgerissenen Mäulern flankierten den Treppengang, der zu dem breiten Doppeltor hinaufführte.
Der Sari-Mann erklomm die Stufen und verschwand im Innern des Gebäudes, ohne sich auch nur einmal umzusehen.
Zamorra und Nicole blieben am Rande der Lichtung stehen, an einer Stelle, an der sie von dem Gebäude aus nicht so leicht entdeckt werden konnten.
»Was ist das für ein Kasten?« fragte Nicole. »Ein Kloster?«
Zamorra nickte. »Oder ein Tempel. Religiös auf jeden Fall.«
»Sollen wir dem Kerl folgen?«
»Nicht wir - ich werde ihm folgen«, erklärte Zamorra. »Du bleibst hier und paßt auf, daß mich niemand überrascht.«
Nicole nickte. Es gefiel ihr zwar nicht, zurückzubleiben, aber es war sicherer so. Wo ein Beobachter war, konnten auch noch weitere sein.
Zamorra huschte hinter den Büschen und Farnen hervor und eilte zu dem Tempelgebäude hinüber; dessen mit tiefroten Lehmziegeln gedecktes Dach erinnerte ihn im Schimmer der Morgensonne an frisch vergossenes Blut.
Mit zwei Sätzen war er die Stufen hinauf. Am Portal, dessen linker Flügel offenstand, verharrte er einen Augenblick, um zu lauschen. Als er nichts hörte, keine Geräusche, die darauf hätten schließen lassen, daß man ihn entdeckt hatte, schlüpfte er in das Gebäude…
***
In dem Gang, in dem sich Zamorra wiederfand, herrschte schattige Kühle, und in der Luft lag der Geruch von Weihrauch und Gewürzen.
Aber nirgends war jemand zu entdecken.
Zamorra hielt sich so dicht wie möglich an der Wand, aus der in gewissen Abständen Halterungen ragten, in denen brennende Fackeln steckten. Er schlich tiefer in den Tempel hinein. Ab und zu kam er an kleinen Nischen vorbei, in denen sich in Stein gemeißelte Bildfolgen befanden, die sowohl Szenen aus dem Koran als auch der Weda darstellten, den heiligen Büchern des Islam und des Hinduismus.
Hier verschmolzen zwei Religionen zu einer.
Mit einem Mal war Zamorra vollkommen klar, womit er es bei diesem Bauwerk zu tun hatte.
Er befand sich in einem Tempel der Sikhs!
Soviel Zamorra wußte, waren die Sikhs eine im Mittelalter gegründete Religionsgemeinschaft, deren Glaube eine Synthese aus Versatzstücken des Islam und des Hinduismus war. Sie nahmen die Karmalehre ebenso für sich in Anspruch wie den Geburtenkreislauf und hatten sich irgendwann im 17. Jahrhundert zu einer mehr oder weniger militanten Gruppierung entwickelt, die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder schweren Verfolgungen durch die herrschende
Weitere Kostenlose Bücher