059 - Der Folterknecht
ihm einen seiner orakelhaften Hinweise gegeben hatte. Unverständlich blieb nur, warum Phillip versucht hatte, das Tagebuch zu zerreißen.
Der Bericht über den Hexensabbat auf dem Eulenberg nahe von Nancy unterschied sich grundlegend von anderen zeitgenössischen Schilderungen. Dorian hatte schon viele Aufzeichnungen über Hexensabbate aus der Zeit der Inquisition gelesen, doch enthielten sie durchwegs der Phantasie entsprungene Ausschmückungen, so daß sie im Endeffekt nichts als märchenhafter Unsinn waren. Was er jedoch hier las, war authentisch, das erkannte er sofort. Baron de Conde hielt sich an Tatsachen. Dorian sah das wilde Treiben auf dem Eulenberg bildhaft vor sich.
Ihm wurde kalt, und er drehte die Heizung auf. Als er sich wieder niedersetzen wollte, läutete das Telefon. Verärgert über die Störung, wollte er sich zuerst nicht um das Läuten kümmern. Er hatte seinen Leuten ausdrücklich gesagt, daß er nicht gestört werden wolle, und sonst wußte niemand etwas von seinem Aufenthalt. Nach dem sechsten Läuten verstummte das Telefon, doch schon nach wenigen Sekunden wurde Dorian erneut aus seinen Gedanken gerissen. Das Telefon schrillte abermals los.
Er hob den Hörer ab und wollte dem hartnäckigen Anrufer gehörig die Meinung sagen, doch seine Stimmung schlug sofort um, als sich eine Männerstimme meldete: „Hier ist Olivaro. Ich muß Sie sofort sprechen, Mr. Hunter.“
„Was ist geschehen?“ fragte Dorian irritiert. „Wo sind Sie jetzt?“
„In London. Ich bin vor einer Stunde angekommen. Ich hatte letzte Nacht einen Traum, der mich veranlaßte, Sie sofort aufzusuchen.“
„Einen Traum?“ wunderte sich Dorian. „Welchen Traum?“
„Beantworten Sie mir zuerst eine Frage. Womit beschäftigen Sie sich?“
„Ich durchstöbere gerade meine Bibliothek nach Unterlagen über Asmodi“, antwortete Dorian verständnislos.
„Habe ich es mir doch gedacht“, unterbrach Olivaro ihn. „Lassen Sie die Vergangenheit ruhen, Mr. Hunter! Versprechen Sie mir, daß Sie in dieser Richtung nichts mehr unternehmen – zumindest so lange nicht, bis ich mit Ihnen gesprochen habe.“
„Ich weiß nicht …“
„Wann können wir uns sehen, Mr. Hunter? Sofort?“
„Warum nicht“, stimmte Dorian zu. „Nehmen Sie ein Taxi und kommen Sie zu mir in die Abraham Road. Die genaue Adresse ist …“
„Ich nehme doch an, daß Sie sich durch Dämonenbanner abgesichert haben“, gab Olivaro zu bedenken.
„Ja, natürlich“, sagte Dorian und biß sich auf die Lippen.
Er hatte nicht bedacht, daß Olivaro ebenfalls ein Dämon der Schwarzen Familie war. Er hatte ihm zwar schon einmal das Leben gerettet, aber der Zauber der Weißen Magie hatte die gleiche abschreckende Wirkung auf ihn wie auf alle anderen Dämonen.
„Wo können wir uns treffen?“ drängte Olivaro.
Dorian nannte ihm, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Adresse von Miß Pickfords Wohnung, die ganz in der Nähe lag. Die Wohnung stand schon einige Zeit leer, seit Miß Pickford in die Jugendstil-Villa gezogen war. Dorian besaß zwar keinen Schlüssel dazu, aber er wollte ohnehin nicht allein zu dem Treffen gehen, und einem seiner beiden Exekutor Inquisitoren würde es bestimmt keine Mühe machen, das Schloß der Tür zu knacken. Wozu hatten sie beim Secret Service eine Spezialausbildung erhalten.
Marvin Cohen saß am Steuer des Rover, der früher einmal Donald Chapman gehört hatte. Er war zweiunddreißig Jahre alt, nicht ganz ein Meter achtzig groß und hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht mit brutalen Zügen. Cohen hatte schon einige Disziplinarverfahren wegen unangebrachter Gewalttätigkeiten hinter sich und war hauptsächlich aus diesem Grund vom Secret Service in die Spezialabteilung Dorian Hunters abgeschoben worden. Seine Pistole, die mit Silberkugeln geladen war, lag schußbereit auf der Konsole. Dorian hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Hinter ihm saß Steve Powell und beobachtete durch die Seitenfenster die vorbeiflitzende Straße mit wachsamen Augen. Er war um sechs Jahre jünger als Cohen, hatte brandrotes Haar und versteckte sein Milchgesicht – wie er es selbst bezeichnete – hinter einem Vollbart. Er war der beste Scharfschütze seines Jahrgangs, hatte aber erst einmal einen Menschen in Notwehr getötet. Er war auch sonst das genaue Gegenteil von Marvin Cohen, aber nur solange man sein irisches Temperament nicht reizte. Cohen hielt vor dem Mietshaus, in dem Miß Pickford ihre Wohnung hatte. Powell
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