0593 - Das Zeichen
sicherlich zuerst merken.«
»Meinen Sie?«
»Natürlich.«
Er erhob sich, wischte dabei über die Stirn und tupfte sich den Schweiß aus den Augen. In seinem Hals saß ein Kloß, den er zunächst wegräusperte, bevor er mir sagte, was ich schon längst festgestellt hatte.
»Er… er hält das Kreuz fest. Ist das nicht ein gutes Zeichen, Mr. Sinclair?«
»Vielleicht.«
»Und er kann es halten. Ja, er kann es halten. Ich… ich finde es einfach wunderbar. Sie sollten es versuchen – jetzt, bitte.« Er schaute mich beinahe ergeben an, als hätte er davor Angst, daß ich meine Meinung noch ändern würde.
»Keine Sorge, Mr. Jehuda, ich werde alles tun, um Ihrem Sohn einen Weg zur Rettung zu bereiten.«
»Gut.«
Er hielt das Kreuz mit der linken Hand umklammert, als wollte er es nie mehr loslassen. Ich hoffte, daß sich mit dem Aussprechen der Formel daran etwas ändern würde.
Also sagte ich die Worte, betonte jede Silbe.
»Terra pestem teneto – Salus hic maneto!«
Und mein Kreuz enttäuschte mich nicht!
***
Ich hatte damit gerechnet, sehr schnell innerhalb einer gleißenden Lichtkugel zu stehen, eingepackt zu werden in die Kraft der Weißen Magie, das aber trat nicht ein.
Das Licht war da, doch es konzentrierte sich nur auf einen einzigen Punkt.
Die linke Hand des Kranken.
Sie wurde tatsächlich für einen Moment durchsichtig und sah so aus, als wollte sie sich auflösen und einfach verschwinden. Das Licht strahlte ab in den Arm hinein, ich konnte mein Kreuz trotz der geschlossenen Hand erkennen und sah, daß es nur an einer bestimmten Stelle derart stark aufstrahlte, und zwar an seinem oberen, abgerundeten Balkenende, wo sich der Buchstabe M abzeichnete.
Es war wie ein Sigill, ein Fanal, das sich bewußt zeigen wollte. Den Grund dafür kannte ich nicht, ich mußte es einfach hinnehmen.
Manchmal erlebt man Dinge, wo die Zeit bedeutungslos wird. Das geschah auch jetzt. Ich konnte nicht sagen, wie lang das Kreuz gestrahlt hatte. Vielleicht fünf, zehn oder fünfzehn Sekunden, doch als die Strahlung zusammenbrach, hatte sich äußerlich nichts verändert.
Nach wie vor lag der Kranke unbeweglich auf seinem Bett, die Augen wieder fest geschlossen, so daß ich von seinen Pupillen nichts mehr sehen konnte.
Der Rabbi hatte seinen Sohn ebenfalls unter Kontrolle gehalten.
Jetzt trat er ein paar zögernde Schritte zurück, mißtrauisch und gleichzeitig staunend.
»Haben Sie etwas gespürt?« fragte er leise.
»Was sollte ich gespürt haben?«
»Etwas von der Aura, die hier vorhanden war. Eine ganz andere Welt hat sich mir aufgetan. Ich hatte das Gefühl, hineinschauen zu können, aber nur durch eine Nebelwand getrennt. Ich weiß nicht… aber … aber kann ich in das Jenseits gesehen haben?«
»Was konnten Sie denn erkennen?«
»Kaum etwas. Licht – vielleicht ein Gesicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht mehr.«
Auch mir war die Szene rätselhaft. Noch immer hielt der Kranke mein Kreuz fest. Ich war allerdings der Meinung, daß er jetzt tiefer atmete als noch vor der Aktivierung. Sollten die alten Mysterien der Kabbala doch recht behalten haben?
Das Kreuz wollte ich jedenfalls zurückhaben und mußte mich anstrengen, um die Finger des Kranken zur Seite zu biegen. Sie fühlten sich fast so an wie die eines Toten.
Endlich lag die Hand offen vor mir, und das Kreuz rutschte auf die Brust. Es sah wieder völlig normal aus. Ich hatte dafür auch keinen Blick mehr, mich interessierte viel stärker der Handballen des Nathan Jehuda. Dort sah ich das Zeichen.
Ein M.
Das M für Michael, das gleiche Zeichen, wie es auch auf meinem Kreuz eingraviert war.
Ich winkte den Rabbi näher. Er kam hastig um das Bett herum und blieb neben mir stehen.
»Da, schauen Sie es sich an.«
Jehuda strich seine dunklen Haare zurück, um sich besser vorbeugen zu können. Er bewegte seine Lippen, ohne etwas zu sagen.
Dann redete er in hebräischer Sprache und übersetzte sie mir, als er sich aufrichtete.
»Es ist angenommen worden, Mr. Sinclair. Das Mysterium der Kabbala hat sich bewahrheitet. Er heißt nicht mehr Nathan, sondern Michael. Im Ballen seiner Hand ist das Zeichen.«
»Aber gesund ist er nicht«, warf ich ein.
Der Rabbi lächelte breit. »Mr. Sinclair«, sagte er, »ich bin älter als Sie, viel älter, und ich habe es gelernt, Geduld zu haben. Das Leben besteht aus Kompromissen und aus Geduld, glauben Sie mir. Wir müssen abwarten.« Er legte mir eine Hand auf die Schultern. »Kommen Sie, wir
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