0593 - Das Zeichen
möchte, daß Sie meinen Sohn mit Ihrem Kreuz berühren.«
»Hm.« Ich nickte nachdenklich. »Nur spielt das Kreuz in der jüdischen Religion keine Rolle, Mr. Jehuda. Wieso vertrauen Sie Ihren Sohn ihm an?«
»Ich denke an die Erzengel.«
»Es sind noch andere Zeichen darauf. Das Sechseck in der Mitte, die Heilige Silbe der Inder, das Allsehende Auge, da kommt einiges zusammen, was der Prophet Hesekiel damals schon in die Wege geleitet hat, als er sich in Babylonischer Gefangenschaft befand. Er ist sehr weitsichtig gewesen, Rabbi.«
»In der Tat war er ein weiser Mann. Auch wir verehren ihn und vertrauen ihm. Wir hätten nicht jedes Kreuz genommen. Das Ihre ist für unsere Zwecke genau richtig.«
»Haben Sie es auch Sir James gesagt?«
»Nein, Mr. Sinclair, nicht direkt. Ich wollte ihn mit diesen Einzelheiten nicht belasten und war dankbar für seine Großzügigkeit mir gegenüber. Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, meinen Sohn auf diese Art und Weise versuchen zu heilen, doch ich möchte Sie sehr herzlich bitten, dieses Experiment zu wagen. Wäre es zuviel verlangt? Vielleicht gewinnen auch Sie neue Erkenntnisse dabei.«
Mit Speck fängt man Mäuse, dachte ich. Im Prinzip hatte er schon recht. Wahrscheinlich hätte ich neue Erkenntnisse gewonnen, aber daran dachte ich zunächst nicht.
Mein Blick fiel auf das Gesicht des Toten, es kam mir noch blasser vor als bei unserem Eintritt. Ich mußte schon genau hinschauen, um erkennen zu können, daß er atmete. Eigentlich war es unverantwortlich, Nathan hier liegen und womöglich sterben zu lassen. Er gehörte in ein Krankenhaus, was ich dem Rabbi auch sagte.
Er widersprach. »Diese Krankheit, Mr. Sinclair, kann mit weltlichen Methoden nicht geheilt werden.«
»Ist sie eine Bestrafung gewesen? Hat sich Ihr Sohn etwas zuschulden kommen lassen.«
Für einen Moment verdüsterte sich sein Blick. »Wie kommen Sie darauf, Mr. Sinclair?«
»Ich habe logisch nachgedacht.«
»Nein, das hat er nicht. Er ist der Sohn eines Rabbi, denken Sie immer daran.«
»Das mag schon sein, Mr. Jehuda, aber auch Sie stecken nicht in Ihrem Kind.«
»Er wird einmal mein Nachfolger werden. Nathan ist bestimmt, die Gemeinde zu führen.«
»Lassen wir das. Es war nur die Frage eines Polizisten, der sich vergewissern will.«
Seine Stimme nahm bei der nächsten Frage wieder einen moderateren Tonfall an. »Kann ich davon ausgehen, daß Sie bereit sind, den Versuch zu wagen?«
»Sie können es.«
Ihm fiel ein Stein vom Herzen, das sah ich ihm an. »Ich danke Ihnen, Mr. Sinclair, ich danke Ihnen schon jetzt, und ich werde beten, daß es uns gelingt, Nathan den Schatten des Todes zu entreißen. Ich werde Sie in meine Gebete mit einschließen.«
»Noch haben wir keinen Erfolg erzielt.«
»Das werden wir aber, Mr. Sinclair.«
Mich erstaunte der Optimismus des alten Rabbi. Wahrscheinlich mußte man so denken wie er, um dieses Gefühl überhaupt erleben zu können. Ich war da skeptischer.
Er ging zum Fenster und zog einen Vorhang vor die Scheibe. Die Sonne war gewandert und hätte durch ihre Strahlen einen Teil des Zimmers erhellt und auch das Bett getroffen. »Es ist besser, wenn wir das andere Licht beibehalten«, erklärte er.
Mir war es egal. Ich holte mein Kreuz hervor und ließ es auf der flachen Handfläche liegen. Es hatte sich nicht erwärmt, für mich der Beweis, daß sich keine dämonische Kraft in seiner Nähe aufhielt.
Der Rabbi starrte über das Bett hinweg auf meine Hand. In seine Augen war ein gewisser Glanz der Freude getreten. »Großer Gott«, flüsterte er, »es ist wunderbar.«
»Das können Sie mal laut sagen.«
»Und uralt.«
»Haben Sie schon darüber gelesen?«
»Ja.« Er nickte. »In den alten Schriften wird es manchmal erwähnt und auch mit einem König Salomo in Verbindung gebracht.«
»Da haben die Schriften nicht gelogen.« Ich wechselte das Thema.
»Haben Sie einen bestimmten Wunsch, wie ich vorgehen soll, Mr. Jehuda?«
»Ja, legen Sie es meinem Sohn über dessen Hände auf die Brust und warten Sie ab.«
»Gut. Was, glauben Sie, wird geschehen?«
Er legte die Handfläche wie zum Gebet zusammen. »Ich kann nur hoffen, daß uns die Umkehr gelingt.«
Wenn ich ehrlich gegen mich selber war, so mußte ich zugeben, daß mich dieser Mann mit seinem Vorschlag ebenfalls neugierig gemacht hatte. Nun war ich gespannt darauf, ob mein Kreuz tatsächlich die mystische Prophezeiung aus der Kabbala in die Tat umsetzen würde.
Noch hielt ich die Kette fest und
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