0593 - Das Zeichen
da etwas dahintersaß. Mehr als ein Glas würde ich wohl kaum vertragen können. Er war nicht süß, auch nicht bitter, besaß jedoch einen weichen und gleichzeitig vollmundigen Geschmack mit einem leichten Fruchtaroma.
Nach dem zweiten Schluck stellte ich das Glas wieder ab. »Mich würde noch interessieren, Mr. Jehuda, woran Ihre Frau gestorben ist. War es ein Unfall?«
»Nein.« Er starrte ins Glas und schüttelte den Kopf. »Es war eine kurze, heimtückische Krankheit.«
»Wie bei Nathan?«
»Leider«, flüsterte er, »habe ich meine Gattin nicht retten können. Deshalb lag mir soviel daran, es bei Nathan zu versuchen. Verstehen Sie mich nun?«
»Natürlich.«
Der Rabbi nahm das Glas zwischen seine Hände und drehte es einige Male. »Es ist eben alles anders gekommen.« Sein Lächeln bekam etwas Verlorenes. »Alles ist anders geworden, seit meine Frau nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich habe Rachel sehr geliebt, wir waren uns immer einig, aber die Krankheit raffte sie dahin. Als würde ein Fluch auf der Familie liegen.«
»Bis Sie die Kabbala durchforsteten.«
»So ist es, Mr. Sinclair. Da entdeckte ich den springenden Punkt. Ich las, ich war fasziniert, nur mußte ich jemand finden, der in der Lage war, dies herüberzubringen. Die Theorie in die Praxis umzusetzen, wenn Sie ver…« Er holte tief Luft und strich danach mit beiden Händen durch sein Gesicht.
»Ist etwas mit Ihnen?«
»Ich weiß nicht…« Wieder atmete er lang und tief durch. »Ich weiß wirklich nicht. Ich fühle mich plötzlich nicht gut.« Mit zitternden Fingern öffnete er seinen oberen Hemdknopf. »Als hätte ich es auf einmal mit dem Kreislauf.«
»Das Wetter, Rabbi, das ist…« Plötzlich bewegte sich der Rabbi vor meinen Augen. Zuerst nach links, dann nach rechts. Ich zwinkerte, er saß wieder normal da.
Verdammt, sollte ich es denn auch mit dem Kreislauf zu tun bekommen? Das wollte mir nicht in den Kopf.
Eigentlich überstand ich die Hitzeperioden immer sehr gut.
Ich stand auf.
Die Knie konnte ich nicht mehr richtig durchdrücken. Irgendeine Kraft erwischte und drückte mich nach vorn, so daß ich mich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch abstützen mußte. Ich schaute über ihn hinweg. Aus dem Rabbi war ein ›Gummimann‹ geworden.
Da fiel es mir ein!
Es war der verfluchte Wein, den wir beide getrunken hatten. In ihm mußte sich etwas befunden haben. War die Flasche nicht schon offen gewesen, als Sarah ihn hereinbrachte.
Ja!
Es war mein letzter Gedanke. Plötzlich veränderte sich die Welt zu einem Kreisel. Daß ich nach vorn und über den Schreibtisch fiel, merkte ich nicht mehr. Eine andere Kraft hielt mich gepackt und hatte mich in ihre Tiefe gezerrt.
***
Als Sarah den beiden Männern den Rücken zugedreht hatte und das Zimmer verließ, lag ein wissendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie schloß die Tür von außen, zog sie aber sofort wieder auf, wobei nur ein Spalt entstand, durch den sie schauen konnte.
Sie sah und horchte.
Beide waren ahnungslos, auch der Rabbi, der ihr vertraute und nicht ahnte, welch eine Laus er sich in den Pelz gesetzt hatte. Er war der Meinung, daß Sarah fest zu ihm und seiner Familie halten würde. Jahrelang hatte sie stets genickt, nie widersprochen, sich allerdings einen eigenen Kreis aufgebaut.
Rachel war es gelungen, sie zu durchschauen. Nun ja, sie lag bereits unter der Erde, auch da hatte Sarah wohl nachgeholfen. Jetzt kam es ihr auf Nathan an.
Manche Rabbis glauben, daß nur sie als Schriftgelehrte die Kabbala begreifen. Ein Irrtum, denn Sarah kannte sie ebenfalls. Auch Dienstmägde konnten intelligent sein, sie waren nicht immer so wie die Hausmädchen in den Liebesschnulzen.
Mit dem Rabbi kam sie klar. Er merkte erst gar nicht, daß er an Sarahs langer Leine lief. Er dürfte eigentlich kein Problem sein, im Gegensatz zu seinem Besucher, diesem Sinclair.
Ihm traute Sarah nicht.
Sie hatte ihn an diesem Tage zum erstenmal gesehen und sofort gespürt, daß er etwas anderes war. Zwar sah er aus wie ein normaler Mensch, doch hinter dieser Fassade steckte mehr. Von ihm floß ein Fluidum aus, das Sarah als gefährlich einstufte. Dieser Mann ließ sich kein X vorm U vormachen, er schlug zu, er war gewappnet, und er mußte einen Erfolg gehabt haben, denn so wie der Rabbi sich in diesen Minuten benahm, hatte er sich schon lange nicht mehr benommen.
Er war fröhlich, beinahe schon ausgelassen, was bei einem ernsten Menschen wie ihm selten vorkam. Normalerweise wirkte er
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