0599 - Die Burg der Schlange
Rückweg war ihr längst abgeschnitten.
Die Treppe war ihre einzige Möglichkeit.
Jessica betrat den Treppengang. Sich mit den Händen an den feuchten, kalten Wänden entlangtastend, ging sie die Stufen hinab.
Noch drang das Licht aus dem Korridor in den Schacht, und sie konnte wenigstens die Umrisse ihrer Umgebung wahrnehmen. Doch nach einem Dutzend Stufen umgab bald völlige Finsternis das zitternde Mädchen.
Im Dunkeln stieg sie die Treppe hinab, ignorierte den fauligen Geruch, der mit jedem Schritt hinab penetranter wurde. Sie betete, daß dies der Weg in die Freiheit war.
Während sie in der tintigen Schwärze eine Stufe nach der anderen nahm, fühlten, sich die Wände unter ihren Handflächen zunehmend glitschiger an.
Doch Jessica überwand ihren Ekel. Sie wußte, daß sie die Steinwände nicht loslassen durfte, wenn sie sich hier unten in der Dunkelheit nicht gänzlich verirren wollte. So hatte sie wenigstens eine kleine Orientierungshilfe.
Zunächst schien die Treppe kein Ende zu nehmen.
Doch dann strauchelte Jessica, weil die scheinbar endlosen Stufen so abrupt abbrachen.
Hier, mitten in der abgrundtiefen Finsternis, in der man die Hand nicht vor Augen sah.
Jessica keuchte überrascht, sie versuchte, das Gleichgewicht zu hallen, doch es war bereits zu spät.
Sie fiel zu Boden, blieb auch einen Moment lang wimmernd liegen, bevor sie, angetrieben von ihrem Überlebenswillen, auf der Suche nach Halt blind um sich tastete.
Ihre Hand berührte einen zylindrischen Gegenstand aus Glas und Blech, der auf den Steinen klapperte.
Jessica runzelte die Stirn, griff behutsam nach dem Objekt und ließ ihre Finger darüber gleiten. Sie wollte herausfinden, was es war.
Metall, eine Glashaube…
Eine Laterne?
Im ersten Augenblick wollte Jessica triumphierend jubeln, doch eine Sekunde später machte sich Ernüchterung breit.
Selbst wenn sie jetzt eine Laterne hatte, ein Feuerzeug, um den Docht anzuzünden, besaß sie nicht.
Wieder griff die Verzweiflung nach ihr!
Dann kam ihr plötzlich in den Sinn, daß sie dort, wo die Laterne gestanden hatte, möglicherweise noch mehr Dinge fand, die sie gebrauchen konnte.
Sie suchte eilig danach, tastete den Boden ab, und als sie einen Moment später tatsächlich fand, was sie so dringend brauchte, konnte sie ihr Glück kaum fassen.
Eine Zündholzschachtel!
Behutsam öffnete sie die Schachtel, nahm ein Streichholz heraus und riß es an der Reibfläche an.
Funken glommen in der Dunkelheit, breiteten sich über den Schwefelkopf aus, und mit einem kleinen Zischen entflammte das Zündholz, ließ Schatten über die Wände tanzen.
Jessica hätte fast hysterisch aufgelacht. Noch nie zuvor in ihrem Leben war sie so froh gewesen, ein Streichholz brennen zu sehen.
Sie griff nach der Laterne, hielt die Flamme des Zündholzes an den Docht und wartete, bis er brannte.
Dann stülpte sie den Glaskolben darüber, hob die Lampe in Kopf höhe…
Und stieß einen schrillen Schrei aus, als sie direkt in die leeren, dunklen Augenhöhlen eines Totenschädels blickte!
Jessica wich hastig zwei Schritte zurück, versuchte, ihre aufgewühlten Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Entsetzt starrte sie das Skelett an, das da direkt vor ihr an der Wand lehnte.
Kein Fetzen Fleisch hing mehr an dem Gerippe, zwischen dessen Brustwirbeln eine fette schwarze Spinne ihr Netz gespannt hatte.
Doch die vermoderten Überreste eines Kleides verkündeten, daß der blanke Knochenhaufen einst ein Mädchen gewesen war.
Ein junges Mädchen.
Genau wie Jessica!
***
Jessica schluckte.
Was, zur Hölle, ging in diesem verdammten Haus bloß vor?
Bevor sie auf diese Frage eine Antwort finden konnte, hörte sie plötzlich ein leises Geräusch, ein vibrierendes Fauchen oder Zischeln, ganz in der Nähe.
Hastig schwang sie herum, die Laterne in der Hand.
Doch sie konnte nichts entdecken. Und als sie angestrengt lauschte, war auch nichts zu hören.
Sie glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als das seltsame Zischeln unvermittelt direkt neben ihr erklang, viel lauter als zuvor.
Eilig leuchtete Jessica mit der Lampe - und erstarrte!
Hatte sie zuvor einem Totenschädel ins knöcherne Antlitz gestarrt, so sah sie sich nun einer riesigen Schlange gegenüber!
Das Reptil hatte sich zu stattlicher Größe aufgerichtet und musterte das Mädchen mit kalten, funkelnden Augen.
Das Maul der Schlange war weit aufgerissen, und eine gespaltene Zunge glitt zwischen den langen, gebogenen Giftzähnen ungeduldig
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