06 - Denn keiner ist ohne Schuld
bitten müssen, den er ihr nur allzu gern gegeben hätte, was dann wiederum ihre Dankbarkeit geweckt hätte. Aus Dankbarkeit würde sie ihm dann endlich einen Platz in ihrem Leben einräumen. Und wenn er den erst einmal erobert hatte, würde langsam ihre Liebe zu ihm erwachen. Und wenn es nicht Liebe war, was sie schließlich empfand, dann würde er sich gern mit Begehren zufriedengeben.
Nur leider erzeugte seine Bemerkung nicht die geringste Spur jener Neugier, die er erhofft hatte, um die Schutzmauer ins Wanken zu bringen, die sie gegen ihn aufgezogen hatte. Sie sah nur wütend aus.
»Ich habe weder ihr noch sonst jemandem etwas getan«, zischte sie. »Ich weiß nichts über sie.«
Er wich zurück. Sie beugte sich vor. »Über sie?« fragte er verständnislos.
»Nichts«, wiederholte sie. »Und wenn Constable Shepherd Ihnen beim Schwatz auf dem Fußweg eingeredet haben sollte, Mr. Sage hätte mir etwas gesagt, was ich benutzen könnte, um ihn zu.«
»... töten«, sagte Brendan.
»Was?«
»Er hält Sie für die Schuldige. Am Tod des Pfarrers. Er sucht nach Beweisen. Shepherd, meine ich.«
Sie machte den Mund auf und schloß ihn wieder. »Er sucht nach Beweisen?« wiederholte sie.
»Ja. Seien Sie also auf der Hut. Und wenn er Sie verhören will, Polly, dann rufen Sie mich sofort an. Sie haben doch die Nummer von der Kanzlei, nicht wahr? Sprechen Sie auf keinen Fall mit ihm allein. Bleiben Sie überhaupt nicht mit ihm allein. Haben Sie verstanden?«
»Er sucht nach Beweisen«, sagte sie wieder, als wollte sie sich von der Wahrheit der Worte überzeugen. Die Drohung, die sie enthielten, schien sie gar nicht zu berühren.
»Polly, antworten Sie mir. Haben Sie verstanden? Der Constable sucht Beweise dafür, daß Sie am Tod des Pfarrers schuldig sind. Er war auf dem Weg nach Cotes Hall, als ich ihn getroffen habe.«
Sie starrte ihn an, schien ihn jedoch gar nicht zu sehen. »Aber Col war doch nur ängstlich«, sagte sie. »Er hat es nicht ernst gemeint. Ich habe es zu weit getrieben - das tue ich manchmal -, und da hat er etwas gesagt, was er in Wirklichkeit gar nicht gemeint hat. Das wußte ich doch. Und er wußte es auch.«
Brendan verstand nicht, was sie da redete. Sie schien völlig weggetreten zu sein. Er nahm ihre Hand. Sie starrte immer noch wie blind ins Leere und entzog ihm ihre Hand nicht. Er verschränkte seine Finger mit den ihren.
»Polly, Sie müssen auf mich hören.«
»Nein, es ist nichts. Er hat es überhaupt nicht so gemeint.«
»Er hat mich nach den Schlüsseln gefragt«, fuhr Brendan fort. »Ob ich Ihnen die Schlüssel gegeben hätte, ob Sie mich darum gebeten hätten.«
Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
»Ich habe ihm keine Antwort gegeben, Polly. Ich habe ihm eine Abfuhr erteilt und ihn zum Teufel geschickt. Wenn er also bei Ihnen erscheint -«
»Das kann er nicht glauben.«
Sie sprach so leise, daß Brendan sich vorbeugen mußte, um sie zu hören. »Er kennt mich doch. Colin kennt mich, Brendan.«
Sie faßte seine Hand fester, zog sie an ihr Herz. Er war verblüfft, entzückt, zu allem bereit.
»Wie kann er glauben, daß ich jemals. Ganz gleich, was. Brendan!«
Sie stieß seine Hand weg. Sie sagte: »Jetzt ist es noch schlimmer.«
Und gerade als Brendan sie fragen wollte, was sie damit meinte, als er sich von ihr erklären lassen wollte, was denn jetzt noch schlimm sein konnte, da sie ihn endlich akzeptiert hatte, fiel eine schwere Hand auf seine Schulter. Brendan blickte auf und sah direkt in das Gesicht seines Schwiegervaters. »Gottverdammich!« sagte St. John Andrew Townley-Young kurz und scharf. »Mach, daß du hinauskommst, ehe ich dir sämtliche Knochen breche, du elender Wurm.«
Lynley schloß die Tür zu seinem Zimmer und blieb mit dem Rücken dagegengelehnt stehen, den Blick auf das Telefon gerichtet, das neben dem Bett stand. An der Wand darüber hingen weitere Zeugnisse der Vorliebe der Wraggs für die Impressionisten und ihre direkten Nachfolger. Monets zärtliches Madame Monet mit Kind nahm sich etwas seltsam aus neben Toulouse-Lautrecs Im Moulin Rouge, und beide Drucke waren mit mehr Begeisterung als Sorgfalt aufgezogen und gerahmt worden. Der Toulouse-Lautrec hing so schief, daß man den Eindruck hatte, das berühmte Nachtlokal sei soeben von einem Erdbeben heimgesucht worden. Lynley richtete ihn gerade. Er zupfte eine Spinnwebe aus Madame Monets Haar. Aber weder die Betrachtung der Bilder noch der flüchtige Gedanke an die merkwürdige
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