06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Zusammenstellung konnte ihn daran hindern, zum Telefon zu greifen und ihre Nummer zu wählen.
Er kramte seine Uhr heraus. Es war kurz nach neun. Sie würde noch nicht im Bett sein. Nicht einmal die Uhrzeit gab einen plausiblen Grund ab, den Versuch zu unterlassen. Er hatte keine Entschuldigung, den Anruf nicht zu machen.
Außer Feigheit, an der es ihm Helen gegenüber weiß Gott nicht mangelte. Wollte ich wirklich Liebe, fragte er sich mit bitterer Ironie, und wenn ja, wann wollte ich sie? Und wäre nicht eine Affäre - wäre nicht ein Dutzend Affären - weniger kompliziert und weit bequemer als dies hier? Er seufzte. Wie entsetzlich die Liebe war; keineswegs so einfach wie das Tier mit zwei Rücken.
Im Bett hatten sie nie Probleme miteinander gehabt. An einem Freitag im November hatte er sie von Cambridge nach Hause gefahren. Sie hatten sich bis zum Sonntag morgen nicht aus ihrer Wohnung gerührt. Bis Samstag abend vergaßen sie sogar das Essen. Er konnte die Augen schließen - selbst jetzt, wenn er daran dachte - und ihr Gesicht über sich sehen, ihr herabfallendes Haar, in der Farbe dem Cognac nicht unähnlich, den er soeben getrunken hatte. Er konnte die Bewegungen ihres Körpers fühlen, die Wärme unter seinen Händen, wenn sie von ihren Brüsten zu ihrer Taille unter ihre Schenkeln glitten; er konnte hören, wie ihr Atem stockte und dann seinen Rhythmus völlig veränderte und ihrer wachsenden Erregung folgte, bis sie wie besinnungslos seinen Namen rief. Er hatte, seine Finger unter ihrer Brust, den hämmernden Schlag ihres Herzens gespürt. Sie hatte gelacht, ein wenig verlegen darüber, wie einfach das alles zwischen ihnen war.
Sie war das, was er sich wünschte. Zusammen waren sie das, was er sich wünschte. Aber ihr Leben bestand nicht auf Dauer aus den Stunden, die sie miteinander im Bett verbrachten.
Denn man konnte eine Frau lieben, man konnte mit ihr schlafen, man konnte erreichen, daß sie einen rückhaltlos wiederliebte, und dennoch konnte es passieren, daß man im Innersten nicht berührt wurde. Denn dies hätte eine endgültige Aufhebung aller Schranken bedeutet, die Bereitschaft zur Selbstaufgabe. Das wußten sie beide, hatten sie beide schon erfahren.
Wie lernen wir zu vertrauen, fragte er sich. Wie entwickeln wir den Mut, uns ein zweites oder drittes Mal verletzbar zu machen, das Herz immer wieder von neuem der Gefahr auszusetzen, daß es gebrochen wird? Helen wollte das nicht tun, und er konnte es ihr nicht verübeln. Er war selbst nicht immer sicher, ob er so weit gehen wollte.
Er dachte mit Ärger an sein heutiges Verhalten. Er hatte an diesem Morgen gar nicht schnell genug aus London herauskommen können. Er kannte seine Motive gut genug, um sich einzugestehen, daß ihn die Aussicht auf Distanz zu Helen, aber auch der Wunsch, sie zu bestrafen, getrieben hatte. Ihre Zweifel und Ängste reizten ihn, vielleicht weil sie so genau seine eigenen spiegelten.
Müde und verdrossen setzte er sich auf die Bettkante und lauschte dem eintönigen Tropfen des Wasserhahns im Bad. Er wußte, daß das Geräusch ihn verrückt machen würde, wenn er erst im Bett lag und zu schlafen versuchte. Wahrscheinlich, dachte er, brauchte der Hahn nur eine neue Dichtung. Ben Wragg konnte ihm sicher eine geben. Er brauchte nur den Telefonhörer abzunehmen und darum zu bitten. Wie lange würde es schon dauern, den Hahn zu reparieren? Fünf Minuten vielleicht? Vier? Und er konnte nachdenken. Während seine Hände beschäftigt waren, würde er den Kopf frei haben, um in bezug auf Helen eine Entscheidung zu treffen. Er konnte sie schließlich nicht einfach anrufen, ohne zu wissen, was er mit seinem Anruf eigentlich wollte. Fünf Minuten Abstand würden verhindern, daß er sich gedankenlos in etwas hineinstürzte und ebenso gedankenlos riskierte, sich preiszugeben - ganz zu schweigen von Helen, die weit sensibler war als er. Er unterbrach den inneren Monolog. Preisgeben? Wem denn? Wem denn? Der Liebe? Der Verbindlichkeit? Der Ehrlichkeit? Dem Vertrauen? Nur Gott konnte wissen, wie sie beide eine solche Herausforderung überstehen würden.
Er lachte bitter über sein Spiel der Selbsttäuschung und griff zum Telefon, als es plötzlich läutete.
»Denton hat mir gesagt, wo ich dich erreichen kann«, war das erste, was sie sagte.
Und das erste, was er sagte, war: »Helen! Hallo, Darling. Ich wollte dich gerade anrufen.«
Wobei ihm klar war, daß sie ihm das wahrscheinlich nicht glauben würde und er keinen Grund hatte,
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