06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Busch herauswuchs. »Hier wachsen im Sommer Spierstrauch und Eisenhut. Ein bißchen weiter oben gibt es herrliche Kamille.«
Sie bückte sich und sagte, während sie die Unkräuter zu ihren Füßen teilte: »Und wenn man Zweifel hat, sieht man sich die Blätter der Pflanze an, die unten, in Bodennähe, lange erhalten bleiben. Irgendwann zerfallen sie, aber das dauert sehr lange.«
Sie richtete sich auf und streckte ihre Hand aus. In ihr hielt sie die Überreste eines gefiederten Blattes, das dem der Petersilie nicht unähnlich war. »Daran erkennen Sie, wo Sie graben müssen«, sagte sie.
»Zeigen Sie's mir.«
Das tat sie. Schaufel oder Hacke waren nicht nötig. Die Erde war feucht. Sie hatte keine Mühe, eine Pflanze zu entwurzeln, indem sie einfach die Stengel packte, die über der Erde noch vorhanden waren. Sie schlug die Wurzel kurz und hart gegen ihr Knie, um die Erdklumpen zu entfernen, und beide sahen sich wortlos an, was übrigblieb. Sie hielt einen verdickten Wurzelstock, an dem ein Büschel Knollen hing. Sie ließ ihn augenblicklich fallen, als besäße er die Macht, allein durch Berührung zu töten.
»Erzählen Sie mir, wie das mit Mr. Sage war«, sagte Lynley.
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Sie schien nicht in der Lage zu sein, ihren Blick von dem Schierling zu wenden, den sie fallengelassen hatte. »Ich hätte doch bestimmt die Knollen gesehen«, sagte sie. »Ich hätte sofort Bescheid gewußt. Ich würde mich selbst jetzt noch daran erinnern.«
»Wurden Sie abgelenkt? War jemand bei Ihnen? Hat jemand nach Ihnen gerufen, während Sie gruben?«
Noch immer sah sie ihn nicht an. »Ich hatte es eilig. Ich weiß noch, ich bin den Hang hinuntergelaufen, direkt hierher, an diese Stelle, hab den Schnee weggeschoben und die Pastinake ausgegraben.«
»Den Schierling, Mrs. Spence. Genau wie jetzt.«
»Es muß eine einzelne Wurzel gewesen sein. Knollen hätte ich doch bemerkt. Ich hätte sie gesehen.«
»Erzählen Sie mir, wie das mit Mr. Sage war«, wiederholte er.
Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht wirkte düster. »Er kam mehrmals zu uns. Er wollte mit mir über die Kirche sprechen. Und über Maggie.«
»Warum über Maggie?«
»Sie hatte sich mit ihm angefreundet. Er nahm Anteil an ihrem Leben.«
»Welcher Art?«
»Er wußte, daß sie und ich Schwierigkeiten miteinander hatten. Aber das kommt zwischen Müttern und Töchtern immer einmal vor. Er wollte vermitteln.«
»Hatten Sie dagegen etwas einzuwenden?«
»Es war mir nicht besonders angenehm, als unzulängliche Mutter zu gelten, falls Sie das meinen. Aber ich ließ ihn kommen. Und ich ließ ihn reden. Maggie wollte es. Und ich wollte Maggie den Gefallen tun.«
»Und an dem Abend, an dem er starb - was war da?«
»Nichts Besonderes. Es war genauso wie die anderen Male. Er wollte mir Ratschläge geben.«
»In Glaubensfragen? Oder bezüglich Maggie?«
»Beides. Er meinte, ich sollte in die Kirche kommen, und wollte mich dazu überreden, auch Maggie zur Kirche gehen zu lassen.«
»Und das war alles?«
»Nicht ganz.«
Sie wischte sich die Hände an dem verblichenen Tuch ab, das sie aus der Tasche ihrer Jeans gezogen hatte. Sie knüllte es zusammen und schob es zu ihren Handschuhen in den Ärmel ihres Pullovers. Sie fröstelte. Der Pullover war dick, aber bei dieser Kälte war er sicher nicht warm genug. Lynley, der sah, daß sie fror, beschloß, das Gespräch hier, an Ort und Stelle, weiterzuführen. Im Moment war er aufgrund ihres Schreckens über den Wasserschierling, den sie herausgezogen hatte, im Vorteil, und er war entschlossen, diesen Vorteil auszunützen und zu wahren, gleich, mit welchen Mitteln. Auch die Kälte war eines.
»Was wollte er noch?« fragte er.
»Er wollte mit mir über Kindererziehung sprechen, Inspector. Er war der Meinung, ich sei zu streng mit meiner Tochter. Mit meinen Verboten würde ich Maggie nur immer weiter in die Opposition treiben. Er meinte, wenn sie mit einem Jungen schliefe, dann sollte sie sich vor einer Schwangerschaft schützen. Ich war der Meinung, sie sollte überhaupt nicht mit einem Jungen schlafen, ob mit oder ohne Verhütung. Sie ist dreizehn Jahre alt. Sie ist ja noch ein halbes Kind.«
»Haben Sie sich Ihrer Tochter wegen mit dem Pastor gestritten?«
»Hab ich ihn vergiftet, weil er mit meinen Erziehungsmethoden nicht einverstanden war?«
Sie zitterte, aber nicht aus seelischer Not, glaubte er. Abgesehen von den Tränen vorhin, die sie sofort unterdrückt hatte, schien sie ihm nicht eine Frau zu sein, die es sich vor
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